Transzendieren und Einbeziehen sind für Wilber die beiden Seiten der Medaille ‚Bewusstseinsentwicklung‘. Es braucht beides. Und beides vermögen Wesen mit Bewusstsein. Jedoch, es herrscht die Ansicht vor, dass sich Bewusstsein nicht kontinuierlich entwickelt, sondern sprunghaften, diskontinuierlichen Wandlungen unterliegt. Erst, sobald eine Bewusstseinsstruktur ‚defizient‘, erschöpft ist und sich destruktiv auszuwirken beginnt, gelangt eine andere, neue zum Durchbruch. Diesem Entwicklungsverständnis, das zum Beispiel vom Schweizer Bewusstseinsforscher Jean Gebser vertreten wurde, haftet ein reaktives Menschenbild an. Es muss erst etwas geschehen, was die Defizite der bisherigen Entwicklung offenlegt und sich in extremo zu einer existenziellen Krise [in meinem Verständnis eine destabilisierende, demotivierende und desintegrierende Situation, die einer Person den Zugang zu ihrer per se gegebenen Transzendenzfähigkeit blockiert] ausformt. Dann erst könne sich Bewusstseins-Entwicklung vollziehen.
Was aber meint nun ‚Bewusstsein‘? Gängig ist die Definition, dass es sich um die Gesamtmenge aller Sinnesempfindungen, Gedanken und Emotionen handelt, die einem Menschen im Kontext eines bestimmten Zeitraums bewusst sind und über die er aus der Erste-Person-Perspektive berichten kann. Es konnte mir bislang nicht einleuchten, warum diese ‚Gesamtmenge‘ erst defizient werden muss, damit eine Person ihr Bewusstsein weiterentwickelt und damit ihre Transzendenzfähigkeit ‚re-aktiviert‘. Ich will nicht in Frage stellen, dass wahrgenommene Entwicklungsdefizite einen Turbo zünden können, das Feld des Bewusstseins zu vergrößern. Ebenso wenig will ich aber bezweifeln, dass das gegenwärtige Bewusstsein eines Menschen stets eine Vorstellungskraft darüber bereithält, die die Transzendenzfähigkeit in einem künftigen Möglichkeitsraum adressiert. Wäre diese spezifisch menschliche Fähigkeit nicht gegeben, wären zahllose nicht-defizitbasierte, selbstgesteuerte Lernprozesse in ein bislang unbekanntes Wissensfeld hinein ebenso Unfug wie die Behauptung, man hätte auf etwas eine Vorfreude oder man hätte eine Vision einer Welt von morgen oder man hätte eine Krisenprävention betrieben im Sinne einer Verantwortungsübernahme, die über den Umgang mit der eigenen Person hinausreicht.
Defizienz als einzigen Ausgangspunkt von Bewusstseinsentwicklung zu fixieren wird daher meines Erachtens der Sache nicht gerecht. Sie kann ein Ausgangspunkt sein, ebenso aber auch ein Erste-Person-Perspektivenraum, der aus einem Überschuss an Transzendenzfähigkeit – an der Fähigkeit, sich in Liebe oder Hingabe auf eine Person [die man nicht selbst ist] oder eine Aufgabe [die nicht dem Eigenwohl dient] auszurichten – pro-aktiv in Bewusstseinsentwicklung mündet.
Meine Frage an Ken Wilber lautet daher: Kann dem Reduktionismus: ‚Der Mensch ist nichts anderes als ein sich erst durch eskalierende Bewusstseinsdefizite entwickelndes Wesen‘ ein Holismus: ‚Der Mensch ist ein Wesen, dessen proaktive Bewusstseinsentwicklung durch Selbstvergessenheit initiiert wird‘ gegenübergestellt werden?
Bevor ich auf die Antwortsuche gehe, will ich aber in Ergänzung zum ‚Prozess-Begriff‘ Bewusstsein noch den bereits bemühten ‚Moment-Begriff‘ Bewusstheit definieren. Ihn werden wir benötigen, um ‚Malus-Momente‘, in denen Bewusstseinsentwicklung aus einem Defizit heraus geschieht, von ‚Bonus-Momenten‘, verstanden als Bewusstseinsentwicklung aus Selbstvergessenheit [so man dies, ähnlich wie bei Frankl, auch in Wilbers Theorie finden sollte], differenzieren zu können.
Bewusstheit soll verstanden werden als psychische Disposition, die das unmittelbare Wahrnehmen dessen beschreibt, was einen Menschen in eigener Achtsamkeit im Hier und Jetzt bewegt und ihm aktuell durch Körperempfindungen, Sinneswahrnehmungen, Gefühle, Phantasien, Denkweise und Impulse gewahr wird [in der Achtsamkeitsmeditation nennt man dies auch ‚offenes Gewahrsein‘].