Archiv für den Autor: Ralph Schlieper-Damrich

2023 – neu: 10. Präventionsarbeit mit den Werte-Meme

In meinem Buch ‚Krisencoaching‘ habe ich eine kleine Selbstreflexions-Übung vorgestellt, bei der man sich für jede Entwicklungsebene [Werte-Meme] mit ihren jeweiligen Hauptthemen wie beispielsweise das ÜBERSTEHEN (das Überlebens-Meme) in beige, oder das ÜBERRAGEN (das Macht-Meme) in rot usw. Fragen stellt, die die Ressourcen und Gefährdungspotenziale jeder Ebene skizzieren.

Stellt man sich nun Situationen vor, die die jeweilige Ebene adressieren, so kann man im nächsten Schritt überlegen, ob man präventiv ausreichend etwas dafür getan hat, damit der Umgang mit unabwendbaren Situationen erleichtert würde. Beispielhaft kann man sich für Situationen, die das Überlebensmeme beige tangieren, Präventionsmaßnahmen wie Versicherungen, medizinische Vorsorge (also Prävention im Kontext des blauen Meme für Ordnung, Sicherheit und Struktur) vorstellen. Im Organisationskontext könnte eine Firmeninsolvenz gegebenenfalls präventiv dadurch abgewendet werden, indem Interventionen im roten Meme zur Anwendung kommen. Sich solche Interventionen szenarisch zu erarbeiten ist unter anderem ein Thema im Krisenpräventionscoaching, das Unternehmer in Anspruch nehmen.

 

2023 – neu: 9. Krisenprävention mit den Werte-Meme

Heute ein kleines Beispiel für die Anwendung der Werte-Meme im Rahmen eines Krisenpräventionscoachings. Bei diesem Coaching wird der Klient angeregt, ein mögliches Krisenszenario auszuloten, das sich aus dem Zusammentreffen einer spezifischen Meme-Meme-Konstellation zwischen ihm selbst und einer oder mehreren Personen ergeben könnte, die von ihm als potenzielle [Mit-]Auslöser einer Krise angesehen werden.

Der Klient ist 53 Jahre alt, war bis vor einem Burnout, der ihn in eine stationäre psychiatrische Behandlung mit anschließender logotherapeutischer Begleitung zwang, Führungskraft in einem Hochtechnologieumfeld. Während seiner ‚Auszeit‘ wurde sein Bereich durch einen neuen Vorgesetzten deutlich umstrukturiert mit Auswirkungen auf einen stark begrenzten Funktionsbereich des Klienten. Diese Veränderungen wurden ihm von Mitarbeitern, nicht vom Vorgesetzten, mitgeteilt. Während der Klient einerseits eine Neuaufstellung des Bereiches inhaltlich grundsätzlich nachvollziehen kann, bestehen bei ihm erhebliche Sorgen hinsichtlich der eigenen beruflichen Zukunft nach seiner psychotherapeutischen Reha. Diese Sorgen richten sich deutlich auf die Verhaltensweisen des neuen Vorgesetzten, der in der Wahrnehmung des Klienten zahlreiche Merkmale eines Verhaltensmusters mehrheitlich im ‚roten und ergänzend im blauen Werte-Meme‘ aufweist [zu dieser Einschätzung kommt der Klient durch Einsatz einer von mir für jedes Meme zusammengestellten Begriffesammlung im Business-Kontext sowie des Tools Bewusstheit in Krisen und des Tools Einstellungswerte, das von mir zwar für das Thema der Reflexion existenzieller Abschiede entwickelt wurde, das sich aber auch in dieser Fragestellung des Klienten als hilfreiche Unterstützung erwies].

Seine eigenen stärksten Werte-Meme in der Berufsrolle sieht der Klient in den Werteebenen ‚blau und orange‘. Aus dieser Kombination von blau-orange (Klient) trifft rot-blau (Vorgesetzter) ergeben sich spezifische Werte-Konfliktfelder. Ich lege Beispiele dieser Kombinationen dem Klienten vor – eine alle Meme umfassende Werte-Konflikt-Matrix hatte ich für das Buch ‚Krisencoaching‘ bereits vor einigen Jahren zusammengestellt (siehe Abbildung weiter unten und hier als pdf zum leichteren Lesen).

Aus den vier Belastungsfeldern wählt der Klient aus seiner Sicht die am ehesten zutreffende – rot markiert – aus und adaptiert sie auf seine Situation. Damit ist der potenzielle Krisenkontext adressiert und kann aus einer Präventionsperspektive betrachtet werden.

 

Zentrale Fragen an den Klienten lauten nun: Welchen Zustand erhoffen Sie, wenn Sie der erwarteten Veränderung in Ihrem Berufsleben kraftvoll getrotzt haben werden? Und was hoffen Sie,  dann zu tun, was Sie nicht jetzt auch schon tun?

Der Zweck dieser Intervention besteht darin, zu erkunden, in welchem Meme der Klient den erhofften Zustand verankert. In vielen Coachings habe ich wahrgenommen, dass Klienten das zweitstärkste Werte-Meme ansprechen, also das stärkste verlassen, aus dem heraus die Umstände und Ursachen der potenziellen Krise ‚gedacht‘ werden.

Und auch dieser Klient steuert auf sein zweitstärkstes, hier ‚orange‘, Meme zu. Für ihn wird klar, dass die Machtposition des neuen Vorgesetzten offenbar so robust war, dass dieser die Veränderungen mühelos vorbereiten und exekutieren konnte. Zudem interpretiert er seine eigene gesundheitliche Lage nach der Reha als noch nicht stabil genug, um direkt mit der Reintegration in sein Arbeitsfeld ein an einigen Stellen plausibles Konfliktfeld mit dem Vorgesetzten aufzumachen. Hingegen fallen in sein zwar begrenztes Tätigkeitsfeld auch neue spezifische Aufgaben, auf die er sich inhaltlich durchaus freut. Sich dieser mit seinem Leistungsmeme anzunehmen und keine Energien für Auseinandersetzungen mit dem Vorgesetzten aufzuwenden, erscheint ihm zwar im ersten Moment paradox, ‚da man mich als durchaus streitbaren Zeitgenossen kennt‘. Auf den zweiten Blick erkennt er durch dieses Vorgehen aber auch zwei neue Möglichkeiten der Berufsweggestaltung. Die erste ist die private Inanspruchnahme einer Potenzialberatung, die ihm aufzeigen soll, in welchen alternativen Tätigkeiten in anderen Organisationen seine Primärkompetenzen zum Einsatz kommen können und für ihn offenstehen. Die zweite ist die Aufnahme eines Engagements in einem völlig neuen Themenfeld. Der Klient hatte in seiner Zeit in der Psychiatrie einige Gespräche mit Mitpatienten geführt, deren Lebenslage sich dadurch als extrem kritisch erwies, weil ihnen kein eigener Wohnraum mehr zur Verfügung stand. Diesen Umständen will er begegnen und ein bislang freistehendes Gebäude umgestalten und Menschen in der beschriebenen Wohnnot solange zur Verfügung stellen, bis diese ihre Lebenssituation wieder stabilisiert haben. Als Gegenleistung dafür werden die aufgenommenen Personen gebeten, ihr Wissen und einen Teil ihrer Zeit für weitere erforderliche Renovierungsarbeiten im Gebäude einzubringen. Der Gedanke an dieses private Projekt erfüllt ihn mit Energie und Einsatzwillen [vgl. hierzu die Stichworte: Selbstdistanzierung, schöpferische Werte, Selbstvergessenheit (Selbsttranszendenz) in den Texten zur Sinntheorie Viktor Frankls auf dieser Webseite].

Die Gesamt-Werte-Matrix  für den Einsatz im Krisenpräventionscoaching finden Sie – in besserer Lesequalität – im Buch Krisencoaching.

2023 – neu: 8. Werteebenen in konkreter Anwendung

Zu Beginn der Vorstellung der Meme-Ebenen habe ich angemerkt, dass kein Werte-Meme per se ‚besser‘ oder ’schlechter‘ ist als ein anderes. Vielmehr dient ein Meme als wertegestützte Form des Umgangs [Schema] mit einem Thema [z.B. Problemlösung, Beziehungsaufbau, Lernprozess, … im Mikrokosmos einer oder einer Gruppe von Personen bis hin zum Makrokosmos eines Gesellschaftssystems im Umgang mit ihren Themen wie z.B. Zukunft der Rente, Resilienz der Energiebeschaffungsinfrastruktur, Anpassung der Schwerpunkte schulischer Bildung im Kontext der KI, Sterbehilfe, Kinderarmut, Entschlackung der Bürokratie … bis hin zu einem Makro-Makrokosmos und einem Umgang mit Themen wie z.B. Vereinte Nationen von Europa, Geldwertstabilität im Euroraum, Einwanderung … bis hin zum globalen Kosmos mit Themen wie z.B. Klimaschutzabkommen, Weltfrieden, Getreidemittelversorgung, Schutz vor Kollisionen mit Objekten aus dem Weltall …]

Nun hat ein Psychotherapeut mit einer je anderen Meme-Konstellation im Kontext von Thema+Schema bei seinen Patienten zu tun, ein Landrat mit je einer Vielzahl anderer bei den Bürgern seiner Gemeinde, ein Staatsoberhaupt wieder mit einer anderen Vielzahl. Dies ist zwar eine triviale Erkenntnis, führt aber nicht-trivial zu der Notwendigkeit eines permanenten Aushandelns eines mehrheitsfähigen Umgangs mit dem jeweiligen Thema. Dort, wo ein solches Aushandeln [vermeintlich] unmöglich erscheint, entstehen Ärgernisse, Konflikte, Rosenkriege oder echte Kriege – oder aber, man bringt die Energie auf, sich die Werte-Meme der oder desjenigen Partners genauer anzuschauen, mit dem der Aushandlungsprozess als ressourcenaufwendiger vermutet wird. [Anmerkung: Dies alleine genommen reicht zwar nicht aus, denn nach integraltheoretischer Sicht gilt es auch die Quadranten, Entwicklungslinien, Typen und Zustände in den Blick zu nehmen. Aber immerhin ein erster Schritt wäre es, will man drohende Eskalationen zumindest einzudämmen versuchen.]

Ich selbst suche mir immer wieder hinreichend komplexe Fragestellungen aus, um mich in den einzelnen Facetten der Integralen Theorie zu üben. Beispiel: Ich lege mir die Frage vor, wie die  Wertesysteme der 27 EU-Staaten derzeit formuliert sind und welche Rückschlüsse aus der Zusammenschau gezogen werden könnten.

In einem ersten Schritt dazu nutze ich die KI mittels ChatGPT, um mir länderspezifisch die wesentlichen Werteebenen zu ermitteln, die derzeit als Arbeitsbasis der jeweiligen Verfassungsorgane formuliert sind und die – ceteris paribus – die Zustimmung der jeweiligen Bevölkerungen entlang ihrer bisherigen Wahlentscheidungen erfahren haben. Inwieweit die Ausführungen der KI valide sind, wäre zu überprüfen, ebenso die jeweilige staatliche Interpretation sowie das kulturell geprägte Begriffsverständnis. Zudem ist zu betonen, dass die folgenden Ableitungen sich ohnehin auf formulierte politische Einstellungen und Wertekontexte beziehen, die sich im Laufe der Zeit ändern und von Regierung zu Regierung unterschiedlich interpretiert werden können. Auch kann die Bevölkerung mehrheitlich aus aktuellen Anlässen heraus andere Werte in den Handlungen ihrer Regierung stärker in Erwartung bringen.

Die Werte sortiere ich anschließend in die bereits beschriebenen Werteebenen und kann so jedes Land mit einer Art ‚Werte-Meme-Flagge‘ versehen. Dabei berücksichtige die von der KI ausgegebenen Erklärsätze, die dazu führen, dass ein identisch formulierter Wertebereich wie zum Beispiel: Europäische Zusammenarbeit unterschiedlich eingefärbt wird, wenn der Erklärsatz darauf hinweist, dass der Staat sich bereits aktiv nach diesen Werten handelt oder wenn er erst danach strebt, dies zu tun. An einigen Stellen wäre es womöglich angemessener, den jeweiligen Begriff in zwei Farben darzustellen, der Einfachheit halber verzichte ich aber auf eine weitere Differenzierung.

Ergänzend stelle ich einen Zuordnungsvorschlag für soziale Organisationsformen den folgenden landesspezifischen Informationen voran:

  • Beige: Horde
  • Purpur: Stammesorganisation
  • Purpur im Übergang zu Rot: [Patriarchalische] Gesellschaftsordnung, bei [meist] der Mann eine bevorzugte Stellung in Staat und Familie innehat und bei der in Erbfolge und sozialer Stellung die männliche Linie ausschlaggebend ist. Absolutismus, bei der eine einzelne Person [meist Monarch] vollständig über die souveräne Ausübung aller Staatsgewalt verfügt.
  • Rot: Diktatur als Regierungsform, in der ein Diktator die volle Macht hat.
  • Rot im Übergang zu Blau: Autokratie als Regierungssystem, in dem die oberste Macht in den Händen einer Person liegt, deren Entscheidungen keinen rechtlichen Beschränkungen unterliegen.
  • Blau: Zentralstaat – Bürokratie – Regelbasierte Hierarchie – Planwirtschaft
  • Blau im Übergang zu Orange: Repräsentative Demokratie bei bestehender Staatssouveränität
  • Orange: Demokratie als Staatsverfassung, in der die Herrschaft bzw. die Machtausübung auf der Grundlage politischer Freiheit und Gleichheit sowie weitreichender politischer Beteiligungsrechte erwachsener Staatsbürger erfolgt. Marktwirtschaft. Leistungsbasierte Hierarchie
  • Orange im Übergang zu Grün: Soziale Demokratie, gemeinwohlorientierte Leistungsgesellschaft
  • Grün: Sozialstaat mit finanzieller und sozialer Unterstützung der Bevölkerung zum Ausgleich von  Ungerechtigkeiten zwischen Bevölkerungsschichten.

Nun zu den Staaten der EU [Stand Sommer 2023] in alphabetischer Reihenfolge:

Die Werte des belgischen Staates:

  • Demokratie: Belgien ist eine parlamentarische Demokratie, in der die Macht auf verschiedenen Ebenen (national, regional und kommunal) durch Wahlen und politische Partizipation vom Volk ausgeht.
  • Pluralismus und Toleranz: Belgien ist ein multikulturelles und mehrsprachiges Land mit einer reichen Vielfalt an Kulturen und Traditionen. Pluralismus und Toleranz sind wichtige Werte, die das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Gemeinschaften fördern sollen.
  • Menschenrechte: Belgien steht für die Achtung der Menschenrechte und verfolgt das Ziel, die grundlegenden Freiheiten und Rechte seiner Bürger zu schützen und zu fördern.
  • Sozialer Wohlfahrtsstaat: Belgien verfolgt eine Politik des sozialen Wohlfahrtsstaates, um das Wohlergehen seiner Bürger zu gewährleisten und soziale Sicherheit zu bieten.
  • Europäische Zusammenarbeit: Belgien ist ein aktives Mitglied der Europäischen Union und engagiert sich für die Idee der europäischen Integration und Zusammenarbeit
  • Rechtsstaatlichkeit: Belgien legt großen Wert auf die Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Justiz und die Einhaltung der Gesetze.

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2023 – neu: 7. Farbenlehre der Meme

Clare W. Graves beschreibt in seiner Theorie der menschlichen Bewusstseinsentwicklung einen Prozess der Vergrößerung von Verhaltens- und Handlungsräumen zum Zwecke der Bewältigung komplexer werdender Themenstellungen. Graves nimmt dazu in seinem werteevolutionären Ansatz an, dass jeder Mensch durch verschiedene Stadien der Bewusstseinsentwicklung geht, wobei jede entwickelte Ebene [Meme-Ebene] durch ein spezifisches Set an Grundüberzeugungen, Werten, Einstellungen und Haltungen repräsentiert wird. In der Integralen Theorie von Ken Wilber wird dieser theoretische Hintergrund weiter vergrößert, in dem eine Entwicklungsebene nicht mehr für sich alleine genommen betrachtet, sondern beispielsweise in den Kontext einer Entwicklungslinie [und – siehe die bereits im letzten Post empfohlene Videoreihe zur Integralen Theorie – weiterer Aspekte menschlicher Entwicklung] gestellt wird. Das führt dazu, dass ein Mensch auf jeder seiner Entwicklungslinien unterschiedliche Entwicklungsebenen erreicht haben kann, was sich dann letztlich je nach gegenwärtiger Situationskonstellation in deutlichen Unterschieden im Verhalten oder Handeln zeigt.

Exkurs: Für sich genommen stellt dies womöglich noch keine umwerfend neue Erkenntnis dar, weiß doch schon jeder Kölner, dass ‚jeder Jeck anders ist‘ und die Ausweitung in ‚jeder Jeck kann in jeder Situation anders jeck sein‘ zumindest dort auch Zustimmung erfahren dürfte. Mein eigenes Forschungsinteresse besteht im Kontext der Individuellen Krisenprävention eher in einer Gegenthese: Es gibt trotz aller vielschichtigen selbstgesteuerten oder aufgenötigten Entwicklungsprozesse bei einem Menschen ein Set an Werten, das allen Situationen trotzt und sich als nicht deformierbares System ‚wesentlicher Werte‘ im Verhalten explorieren lässt. Und weiter: Kann ein Mensch als Ergebnis einer individuellen Werteanalyse ein solches Set bestätigen, ermöglicht er sich damit, Maßnahmen zur Prävention des Angriffs auf diese wesentlichen Werte einzuleiten. In einer Kurzformel: Die Klärung wesentlicher Werte ist die Basis individueller Krisenprävention [auf den Unterschied von Werten, wichtigen Werten und wesentlichen Werten habe ich in früheren Beiträgen im Kontext der sinnzentrierten Psychotherapie nach Viktor Frankl bereits hingewiesen. Sie finden diese Beiträge im Archiv auf dieser Webseite].

Zurück zum Graves Value System, den Entwicklungsebenen und den mit ihnen verbundenen Möglichkeiten individueller und kollektiver Wertereflexion. Das in der psychologischen Literatur derzeit am häufigsten beschriebene Meme-Modell von Graves beschreibt acht Ebenen menschlicher Entwicklung. Für eine schnellere Unterscheidung dieser Ebenen werden Farben einsetzt. Sie sehen sie unten in den kleinen Rauten zu Beginn neuer Textpassagen. 

Zu Beginn der Vorstellung soll betont werden, dass keine Meme-Ebene per se ‚besser‘ oder ’schlechter‘ als eine andere ist. Vielmehr soll der Aspekt in den Vordergrund rücken, dass es stets situativ eine passende Gegenwarts-Bewusstheit [ein passendes Werte-Meme] braucht, ergo es bei einer Abfolge unterschiedlicher, zu bewältigender Situationen auch unterschiedlich angemessener Meme-Ebenen bedarf. Nun aber zu den acht Ebenen in einer ersten Übersicht:

Das Beige-Meme ist die erste Ebene im Graves Value System. Als „Überlebensmeme“ geht es hauptsächlich um die Bewältigung des Themas ‚Befriedigung der Grundbedürfnisse wie zum Beispiel Nahrung, Schlaf, Wärme, Sex‘. Neben Neugeborenen zeigen auch Menschen unter Drogeneinfluss ein mit diesem Meme verbundenes reflex- und instinktgesteuertes Verhalten. Der Rahmen individueller Fähigkeiten, auf ihre Umwelt zu reagieren ist deutlich begrenzt, es wird im Hier und Jetzt gelebt. Im archaisch-urzeitlichen Beige-Meme gibt es noch kein Konzept von moralischen Werten oder sozialen Normen.  

In unserer modernen Gesellschaft ist ein erwachsenes Verhalten und Handeln im Beige-Meme meist nur in existenziellen Krisen zu beobachten, wenn die Verwirklichung von Werten höher entwickelter Ebenen als nicht (mehr) möglich erscheint. Global betrachtet werden aber viele Menschen und Gemeinschaften durch die sie gefährdenden Rahmenbedingungen genötigt, ihr Verhalten und Handeln in diesem Meme zu zeigen. Wenn Menschen mit traumatischen Ereignissen konfrontiert werden, wie z.B. Naturkatastrophen, Krieg oder Hunger, dann werden sie auf ihre Bewusstheit, grundlegendste Überlebensbedürfnisse befriedigen zu müssen, zurückgeworfen. Ihre Verhaltensweisen werden dabei von tief verwurzelten Instinkten und Gewohnheiten bestimmt und sind eher spontan. Im urzeitlich Kontext ist dieses Meme mit Begriffen wie Sammeln und Jagen, klimabedingte Migration oder Bildung schützender und unterstützender Horden verbunden.

Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Beige-Meme zeigen sich negative Auswirkungen darin, dass Menschen sich in ständiger Angst vor Bedrohungen befinden und sich auf ichbezogene Überlebensstrategien konzentrieren, ohne sich am Aufbau sozialer Strukturen oder höherer Werte zu beteiligen.  

Das Purpur-Meme ist die zweite Bewusstheits-Ebene im Graves Value System. Auf ihr entsteht erstmals ein Wir-Bezug und eine Bewusstheit für den Wert einer Gemeinschaft. Die Suche nach einem gemeinsamen Daseins-Zweck und einer verbindenden Identität wird gestärkt durch den Glauben an Symbole, Rituale und Übernatürliches. Das Streben nach Harmonie mit den Kräften der Natur und erste Formen einer Kulturentwicklung – zum Beispiel Musik, Tanz oder erzählende Überlieferung – sind Merkmale dieses Meme. Ein starkes Bedürfnis nach Gemeinschaft, Zusammenhalt, Sicherheit und Geborgenheit in der Gruppe und ihre Befriedigung mittels zeremonieller Handlungen sowie ihre Empfänglichkeit für magische Momente zeigt sich auch heute unter anderem bei religiösen Gemeinschaften. Mit einer intensiven emotionalen Verbundenheit mit ihrer Gemeinschaft, die ohne institutionelle Klammer auskommt, betrachten Menschen im Purpur-Meme die Welt als ein geheimnisvolles und oft unerklärliches Universum, in dem alles miteinander verbunden ist.

Obwohl das Purpur-Meme auf den ersten Blick als naiv oder dem Kleinkindalter entsprechend erscheinen kann, ist es von großer Bedeutung in der menschlichen Entwicklung. Auf dieser Ebene steht das Lernen durch Nachahmung und damit ein tiefes Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit in einer Gruppe im Vordergrund.

In unserer modernen Gesellschaft ist ein erwachsenes Verhalten und Handeln im Purpur-Meme oft im Thema ‚dazugehören wollen‘ zu beobachten. Familiär geprägte Organisationen, Stammeskulturen, Cliquen und Clans werden als Orte der Sicherheit empfunden, und die Anpassungsfähigkeit an das Gruppenverhalten gilt als notwendige Bedingung dafür, nicht in die Angst zu verfallen, aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden. Loyalität gegenüber Ältesten und die Tradition der Gruppenkultur werden gepflegt; Kinder werden als Alterssicherheit angesehen. 

Wenn Menschen mit Bindungs- und Vertrauensverlusten konfrontiert werden, wie dies z.B. bei der Scheidung der Bezugspersonen in der frühen Kindheit oder bei der Trennung von der Gemeinschaft durch Umzug entstehen kann, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Purpur-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen irrationalem Glauben, magischen Praktiken oder Sektierertum verfallen.

Eigene Bedürfnisse nach Individualität zeigen sich im Graves Value System erstmals im Rot-Meme. Verhalten sich Menschen bei spezifischen Themen entlang dieses Werte-Meme, so zeigen sie ihr Bedürfnis nach Macht, Kontrolle und Dominanz an. Für Bedürfnisse anderer bringen sie in diesen Kontexten ein eher geringes Verständnis auf. Sie glauben an die Stärke und Überlegenheit des Individuums gegenüber der Gruppe und lehnen Autorität und Kontrolle ab, wenn sie nicht zu ihrem eigenen Vorteil sind.

Einen Vorgeschmack auf dieses Meme zeigen Kinder in der pubertären Trotzphase, wenn sie mit Einschüchterung und Kraft anderen ihren egozentrierten Willen aufzudrücken versuchen. Auch eine Tendenz zur [subtilen, manipulativen, kommunikativen oder physischen] Gewalt und Aggression ist möglich, wenn es darum geht, persönliche Ziele zu erreichen. Die ‚Siegen-wollen-Mentalität‘ steht dabei im Einklang mit einem Weltbild, das den Kampf um Ressourcen und Macht als erforderlich ansieht, das auf Omnipotenz oder gar Unsterblichkeit setzt und in dem Kritik von Außen als persönlicher Angriff und Beleidigung angesehen wird. Ein weiteres Merkmal des Rot-Memes ist ein impulsives, ‚aus-dem-Bauch-heraus-Handeln‘, ohne Rücksicht auf Konsequenzen oder die Bedürfnisse anderer. Eine sofortige Bedürfnisbefriedigung wird ungeduldig  angestrebt und die kleine oder große Welt ist dafür die Plattform, auf der Macht und Willenskraft demonstriert wird.  

In unserer modernen Gesellschaft ist das ichzentrierte Rot-Meme durchaus präsent. Meist negativ konnotiert, wenn es sich im Kontext von Feudalherrschaften, dem Drang zum Erhalt von Imperien, Heldenverehrung kriegerischer Eroberungen, Gewalt in der Familie, Korruption usw. zeigt. Als positiv wird das Rot-Meme erlebt, wenn es um die persönliche Entschlusskraft geht, in passenden Situationen direktive Anweisungen mit Energie und Verve mitzuteilen oder wenn gegen Widerstände aus dem Umfeld der Wille für eigene Entdeckungen und Kompetenzaufbau aufrecht erhalten bleibt oder auch, wenn sich keine anderen Wege aufzeigen, gegen Unterdrückung oder Ohnmacht aufzubegehren.

Wenngleich das Rot-Meme auf den ersten Blick als egoistisch und unmoralisch erscheinen kann, ist es von großer Bedeutung in der menschlichen Entwicklung. Auf dieser Ebene wird das Bedürfnis nach Herrschaft und Selbstbestimmung erkannt und geschätzt. Es betont die Bedeutung von Autonomie und Selbstbestimmung und schafft damit eine Grundlage für persönliches Wachstum und Selbstverwirklichung. 

Wenn Menschen mit der Abwertung ihres Platzes und ihres Status in der Gesellschaft konfrontiert werden, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Rot-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen dazu neigen, situativ ihre Selbstsucht auf Kosten anderer auszuleben, Machtmissbrauch oder Rache auszuüben oder einen Hang zum Narzissmus zu entwickeln.

Das Blaue-Meme ist die vierte Entwicklungsebene im Graves Value System. Nach der Fokussierung auf beige Grundbedürfnisse, purpurne Gemeinschaft und rote Machtbewussheit geht es hier um die Schaffung von Ordnung, Stabilität und Sicherheit durch Einhaltung von Gesetzen, Regeln, Vorschriften und Strukturen. Institutionen versprechen mit ihren Hierarchien Sicherheit in einer unberechenbaren Welt. Die Bewusstheit, dass für bestimmte Themen ein Schema wie Autorität, Gehorsamkeit, Disziplin, Moral oder auch Konvention und die Bewahrung ethischer Standards passend ist, verweist auf ein geringes Verständnis für Nuancen und Abweichungen. Die situative blaue Bewusstheit neigt zu einem Schwarz-Weiß-Bewertungsmuster, zu einer strengen Auslegung von Überzeugungen und kulturellen Normen.

Menschen mit entwickeltem Blau-Meme schätzen situativ die Ausrichtung an Tugenden, Sitten und aus ihrer Sicht moralischen Standards. Gradlinigkeit, Berechenbarkeit, Pflichtbewusstsein wird hoher Stellenwert beigemessen. Der Preis dafür kann sich in einer schnellen Polarisierung in gut-böse, richtig-falsch usw. zeigen, man bleibt unter sich und seinesgleichen, folgt Gesinnungsautoritäten, hält quasi-ideologisch an ewig Gültigem fest oder schwört Treue bis zum Schluss. 

In unserer modernen Gesellschaft ist das wir-orientierte Blau-Meme dort präsent, wo Stabilität und Ordnung wichtiger sind als individuelle Freiheit und Kreativität. Politische, militärische, administrative und religiöse Institutionen sind oft blau geprägt. Die Einhaltung von Regeln und Vorschriften gilt dort als entscheidend für die Sicherheit der Gemeinschaft. Beim Einsatz einer blauen Bewusstheit wird auf hierarchische Systeme wie Kasten, Klassen oder Rassen rekurriert und sprachlich zeigen sich allerlei Grundüberzeugungen in Form von -ismen. Auch die Bereitschaft, sich für jemanden oder etwas zu opfern, um dafür später eine Belohnung zu erlangen, ist ein beobachtbarer Aspekt des Blau-Meme.

Wenn Menschen mit einer Diskreditierung der von ihnen geschätzten Strukturen, Ordnungen oder Regeln konfrontiert werden, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Blau-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen dazu neigen, andere selbstgerecht zu behandeln oder diejenigen zu unterdrücken, die nicht in ihr Weltbild passen. Sie können auch dazu tendieren, auf starre und kreative Problemlösungen erstickende Regeln und Normen zu setzen, anstatt – sofern entwickelt – auf ihr eigenes Urteilsvermögen und ihre eigene Intuition zu vertrauen.

Auf der nächsten Werte-Ebene beschreibt Clare W. Graves eine Weltanschauung, die sich auf die Überwindung von Einschränkungen und die Maximierung des Erfolgs konzentriert. Das dabei eingesetzte Orange-Meme können wir auch das Meme der Leistung und des Wettbewerbs nennen. Menschen, die situativ dieses Gegenwarts-Bewusstheit in ihrem Verhalten präferiert zeigen, folgen ihrem Bedürfnis nach Verwirklichung von Werten und Motiven wie Fortschritt, Innovation, Leistung, Zielerreichung und Aufstieg. Eine starke Ausrichtung auf autonome Selbstverwirklichung, individuelles Wachstum und persönliche Entwicklung ist dann beobachtbar. Mit einer Tendenz zur Rationalität und Effizienz wird die Welt als eine Maschine angesehen, die optimiert werden kann, um maximale Ergebnisse zu erzielen. Zum Gelingen wird dabei auf wissenschaftliche Methoden und Analysen gesetzt, die als zweckdienlich für das Lösen komplexer Probleme angesehen werden.

In einer Gesellschaft ist das ich-zentrierte Orange-Meme dort weit verbreitet, wo messbarer Erfolg und das Ringen um Anteile an zu verteilenden Ressourcen eine wichtige Rolle spielen. In diesem Kontext neigt diese Ebene zu einer elitären Haltung, die Wachstum und Expansion heilig spricht und in der Loyalität auf Nützlichkeitsüberlegungen beruht. Als Ergebnis der Werteverwirklichung auf Orange locken Glück, Konsummöglichkeiten und Vergnügen.

Eine starke Kritik wird gegen dieses Meme laut, wenn die ihm zueigenen Verhaltens-/Handlungsweisen als reines Eigeninteresse an Status, Rang, Prestige, Profit oder auf Kosten anderer gehend empfunden werden. Der stark auf kurzfristige Ergebnisse fokussierte faktenbasierte Pragmatismus bei Entscheidungen im Orange-Meme wird zuweilen einerseits als bewundernswerter Handlungswille gewürdigt. Werden jedoch Manipulationen der Handelnden an der Natur, an Zahlenwerken, an menschlicher Integrität und Würde oder als Angriff gegen ein bestehendes Gerechtigkeitsgefühl von anderen Menschen wahrgenommen, so folgen auf der anderen Seite meist Einwände hinsichtlich der Auswüchse von Kapitalismus, Materialismus oder Individualismus.

Wenn Menschen mit der Abwertung ihrer Qualifizierung und ihres Erfolgswillens in der Gesellschaft konfrontiert werden, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Orange-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen dazu neigen, situativ ihre ‚Ellenbogen-Verdrängung‘ als taktisches Mittel zur Verteidigung zum Beispiel ihrer erreichten Karrierestufe auszuleben, selbstgefährdende Arbeitsüberlastungen einzuleiten oder zuzulassen oder einen Hang zu einem der zahlreichen Facetten eines Suchtverhaltens zu entwickeln.

Das Orange-Meme zeigt, dass die menschliche Entwicklung nicht auf der Ebene der Gemeinschaft und Stabilität stagnieren muss, sondern dass wir in der Lage sind, uns auf individueller Ebene weiterzuentwickeln und persönliche Erfolge zu erzielen. Wie bei allen anderen Meme auch, zeigt sich die individuelle oder kollektive menschliche Entwicklung in Form einer Reise, bei der jede erreichte Ebene auf den vorherigen aufbaut. [Anmerkung: Auch das Beige-Meme, das ich als  Überlebens-Meme vorstellte und das unter anderem die Gegenwarts-Bewusstheit des Neugeborenen beschreiben hilft, hat entsprechende Vorläufer. Beim Neugeborenen sind es die elterlich entwickelten Bewusstheitsebenen auf der Entwicklungslinie “Rolle als Vater/Mutter‘. Je nach Meme kann die Rolle, die sich beispielsweise ein Vater zuschreibt umrissen werden als Familienmensch und Beschützer (purpur), Oberhaupt der Familie (rot), Erziehungsberechtigter und Versorger (blau), Antiautoritärer Trainer und Wissensvermittler (orange), Androgyner Gesprächspartner und Wertevermittler (grün). Es liegt nahe anzunehmen, dass eine präferierte Rollenbewusstheit als mitprägender Einfluss auf die psychische Entwicklung des Kind ab dessen Beige-Meme einwirkt.]

Mit dem Grün-Meme erreichen die Bewusstheits-Ebenen die Werte im Kontext von Menschlichkeit, Gleichheit, Kooperation, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit. Im individuellen oder kollektiven Verhalten zeigt sich ein Streben nach Harmonie, Ausgleich in Beziehungen und in der Gesellschaft als Ganzes, eine starke Betonung von Toleranz und Akzeptanz gegenüber unterschiedlichen Lebensstilen und Meinungen sowie eine auf Diversität und Inklusion achtende Grundhaltung. Dass jeder Mensch gleiche Rechte und Chancen haben sollte, führt im Grün-Meme zur Verhaltenstendenz, die persönliche Entwicklung mit sozialen Verantwortlichkeiten zu verbinden. Menschen auf dieser Stufe suchen nach einem sozialen Zweck in ihrem Leben und engagieren sich entsprechend.

In vielen modernen Gesellschaften zeigt sich das wir-orientierte Grün-Meme insbesondere bei Einzelpersonen, Gruppen, Institutionen und Organisationen, die einen Schwerpunkt ihres Engagements den vielen Brennpunkten widmen, die im Kontext der Kritik an einer zu starken Leistungsgesellschaft (orange) entstehen und sich in den Themen wie Armutsbekämpfung, Bildungsgerechtigkeit, Fairness gegenüber Minderheiten, Chancenfeldern für Migranten, gerechtere Ressourcenverteilung, Weltgesundheit und vielen mehr zeigen.

Das Grün-Meme wird so als Gesellschaftsbild vorgestellt, in dem ein dogmatisches Klammern an vorausgegangenen Bewusstheits-Ebenen abgelöst wird durch einen pluralistischen und relativistischen Zugang zur Welt. Dieser Zugang ist verbunden mit zahlreichen Forderungen zum Beispiel an eine neue political/people/social/communicative/…- correctness, an eine konsensuale Streitkultur, tragfähigere Strukturen für soziale Teilhabe, Infragestellung unbegrenzter Wachstumsphantasien, Nivellierung einst diskriminierender Rollen und Klassenunterschieden, Dezentralisierung von Entscheidungsstrukturen oder dem Lebenswohl für alle Lebewesen.

Kritiker des Grün-Meme argumentieren, dass die Betonung von Gleichheit und Zusammenarbeit auf Kosten individueller Freiheiten und persönlicher Leistung gehen kann. Konstruktiv wird dabei betont, es sei lohnend, ein Gleichgewicht zwischen diesen Werteebenen zu finden und sicherzustellen, dass alle Stimmen gehört und berücksichtigt werden. Destruktiv wird dieses Meme als Zeitgeist-Phantasma etikettiert, das nicht in der Lage sei, sich den globalen Weltkonflikten schnell und wirkungsvoll entgegenzustellen.

Wenn Menschen mit der Abwertung ihrer gemeinwohlorientierten Verantwortungsbereitschaft konfrontiert werden, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Grün-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen dazu neigen, situativ ihre weisheitsbeanspruchende Selbstgefälligkeit regelbrechend auf Kosten anderer auszuleben oder spezifische Formen einer Gesinnungsethik durchsetzen zu wollen. Aber auch das Phänomen, Konflikte zu vermeiden und Entscheidungsprozesse auf Kosten der Effektivität und Leistungsfähigkeit zugunsten einer Gruppenidentität zu entschleunigen, zeigt sich situativ.

Insgesamt verweist das Grün-Meme darauf, dass menschliche Entwicklung nicht auf der Ebene der individuellen Leistung stagnieren muss, sondern dass wir als Gesellschaft in der Lage sind, uns auf sozial verantwortungsvolle Weise weiterzuentwickeln.  

Mit den nächsten Werte-Ebenen, beginnend mit dem Gelb-Meme, öffnet sich ein neuer Raum der Weltbetrachtung. Ein Raum, der sukzessive immer mehr systemische, holistische und kosmische Aspekte für die Bewältigung komplexer überindividueller Themenstellungen vorhält und auf den sich nur unpassende Antworten in den Meme bis einschließlich Grün finden lassen.

Das erste dieser Ebenen ist das Gelb-Meme, das oft als Stufe der Integration und des Systemdenkens bezeichnet wird. Es repräsentiert eine komplexe und integrative Sichtweise auf die Welt, bei der Menschen die Welt als ein System betrachten, in dem alles miteinander verbunden ist [also auch alle Werte-Ebenen bis einschließlich Grün] und wo es erforderlich ist, verschiedene Perspektiven und Weltanschauungen zu integrieren und zu verstehen, ohne sich auf eine bestimmte Sichtweise festzulegen. Mit dieser umsichtigen Haltung des Einschließens aller Zugänge zur Lösung komplexer Probleme leistet das Gelb-Meme einen Beitrag zu einer mentalbarrierefreieren Kommunikation.

Dem Gelb-Meme liegt es an sich fern, andere Werte-Ebenen abzuwerten, vielmehr können Menschen in Situationen, die dieses Meme erfordern, mehrere Standpunkte einnehmen und gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten [eine Fähigkeit, die jedoch häufig bei Menschen, die das Gelbe-Meme noch nicht integriert haben, Irritationen hervorruft, weil sich diese Menschen womöglich einen festen Standpunkt, eine klare Ansage oder eine schnelle Lösung erhoffen, zu denen Gelb entlang ihrer Entwicklungsgeschichte eine gewisse Distanz aufgebaut haben]. Die Verhaltens- und Handlungsweisen des Gelb-Meme wirken integrierend und sind befreit von Erwartungen anderer und von Bindungen aus der Vergangenheit. Das Bedürfnis nach öffentlicher Anerkennung ist gering, das nach Wissen, Flexibilität und Kompetenzentwicklung hat Vorrang vor Macht, Status oder Gruppenempfindlichkeiten. 

Obwohl das Gelb-Meme ein Menschenbild adressiert, das den Menschen so nimmt wie er werden könnte und die Wege, wie er wurde, der er ist, lediglich als Grundlage dafür ansieht, gibt es auch Kritik an dieser Ebene. So wird argumentiert, dass die Betonung systemischeren Denkens zu einem Mangel an Akzeptanz früher entwickelter Werte führen kann oder dass Entscheidungen, die situativ mit dem Gelb-Meme getroffen werden, Menschen nicht dort abholen, wo sie stehen. Bei dieser Kritik wird jedoch womöglich übersehen, dass es zur Entwicklung des Gelb-Memes oft genug die Konfrontation mit Themen bis ‚grün‘ gab und dass Menschen, die diese Bewusstseinsentwicklung zu Gelb vollzogen haben, auf authentische Beispielgeber in ihrer Biografie verweisen können, durch deren gelber Weltanschauung eine positive Wirkung auf gesellschaftlich hochkomplexe Themenstellungen beobachtbar war.

Zudem muss einem Menschen, der sich hin zu Gelb entwickelt bewusst sein, dass sich der kommunikative Zugang zu vielen Menschen alleine deshalb erschweren kann, weil diese in ihrem Alltag mit Themenstellungen konfrontiert werden, die diese Werte-Ebene nicht benötigen. Der Preis, den Menschen mit einem entwickelten Gelb-Meme dann zuweilen zu zahlen haben, ist eine Art intellektueller Verarmung. ‚Stell Dir vor, die Probleme werden hochkomplex und keiner denkt der Situation angemessen mit‘ – wer sich in einem solchen Umfeld wahrnimmt, muss lernen, auf psychischer Ebene mit Entfremdungsgefühlen umzugehen. Demgegenüber steht im Gelb-Meme ein hohes Maß an Reflexion und Wertebewusstsein, das dabei hilft, eigene Grenzen und die Wirkung eigener Überzeugungen zu erkennen und zu akzeptieren. Die Einstellung, Wissen in den Kontext eines unendlichen Prozesses zu stellen und als Konsequenz davon Bildung als kontinuierlichen Prozess lebenslangen Lernens anzusehen, kann konstruktiv zu einer Blickfelderweiterung führen, die das Finden von Lösungen an für viele andere Menschen unerwarteten Stellen ermöglicht. Negative Auswirkungen einer unverhältnismäßigen Betonung des Gelb-Memes wären hingegen endlose Diskussionen und Reflexionen, ohne zu praktischen Lösungen zu kommen. Auch die Vernachlässigung der Bedeutung von emotionalen Aspekten und menschlichen Beziehungen werden bei Gelb zuweilen beobachtet.

Noch über dieses systemische Gelb-Meme hinaus verweist eine Verhaltens- oder Handlungsweise von Menschen, die situativ eine ganzheitliche Sicht auf die Welt einnehmen: es das im Graves Value System genannte Türkis-Meme. Menschen auf dieser Werte-Ebene haben ein wirkliches Verständnis davon, dass alle Dinge in einem größeren Kontext miteinander dynamisch verbunden sind und dass ihre Handlungen und Entscheidungen die Welt um sie herum ebenso dynamisch beeinflussen.

Eine wichtige Eigenschaft des Türkis-Meme ist die Fähigkeit, Paradigmenwechsel voranzutreiben. Menschen auf dieser Stufe sind in der Lage, neue Ideen und Konzepte zu entwickeln, die grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft bewirken können. Sie haben ein tiefes Verständnis dafür, dass allgesellschaftlich komplexe Probleme nur durch ganzheitliche und integrative Ansätze gelöst werden können. In meinem Verständnis wäre eine Rolle im türkisen Meme die eines Gesellschaftscoachs, und in meiner Hoffnung entspräche diese Meme-Bewusstheit auf politischer Ebene die eines Bundespräsidenten, der seinen Beitrag dafür leisten will, die Gesamtgesellschaft  auszurichten auf Themen, die zeitlich weit über das Leben aller hinausreicht, die aktuell Bürger des Staates sind.

Das Türkis-Meme wird zwar oft mit spirituellen Traditionen und östlichen Philosophien in Verbindung gebracht, da es eine starke Betonung auf Achtsamkeit, Mitgefühl und das Streben nach höheren Bewusstseinszuständen hat. Diese Erklärung greift jedoch zu kurz, denn anderen Meme-Ebenen eben diese menschlichen Qualitäten indirekt abzusprechen, ist mit der tiefen Gelassenheit, mit der im Türkis-Meme auf das Wohl aller Menschen und des Planeten geschaut wird, nicht vereinbar. Vielleicht ist es angemessener, dieser Werte-Ebene die Form eines holistischen Weisheitsvertrauens zuzuschreiben, das den Gedanken, dass jedwedem Problem eine Lösung – wo und wann auch immer – gegenübersteht, mit dem Willen integriert, Hindernisse, die das Finden dieser Lösungen erschweren, mit Besonnenheit und Demut zu identifizieren und zu kommunizieren. Eine günstige Konkretisierung auf Verhaltens- oder Handlungsebene erfährt das Türkis-Meme in konsensbasierten und allfriedensorientierten Kooperationen mit Selbstorganisation und Selbstregulierung innerhalb der Gesellschaft. Dem Blick auf die Welt als eine unteilbare Einheit wird eine gesamtweltliche Suche nach geistig sinnvollen Wegen für die drängenden Probleme, für wen, wo und wie sie sich auch immer zeigen, zur Seite gestellt. Gelingt der Transfer des Türkis-Meme in praktisches Handeln nicht, so zeigt sich womöglich eine Art Elfenbeinturm-Transzendenz, die mehr Welt-Distanzierung zum Ausdruck bringt als die der an sich dem Meme inhärenten Liebe zu tiefer Integration aller Perspektiven im Kontext der jeweiligen Themenstellung.

Eher noch im Forschungsfeld der Bewusstseinspsychologie und daher hier nur minimal skizziert findet sich das Korall-Meme im Graves Value System. Auch dieses Meme ist geprägt von einem tiefen Verständnis der Einheit und Verbundenheit aller Dinge, doch zeigen Menschen, die Themen mit dieser Werte-Ebene adressieren, in ihrem Verhalten oder in ihren Handlungen einen kristallinen Glauben an das kosmische Mysterium und die Existenz von Meta-Ebenen des Bewusstseins. 

2023 – neu: 6. Theme + Scheme = Meme

Es ist an der Zeit, die Theorie des Integralen Bewusstseins in ihren wesentlichen Facetten zu beschreiben. Das Material, das sich hierzu im Web und in der Literatur findet, ist derart umfangreich, dass die Suche nach einem passenden individuellen Zugang ein wenig anmutet wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Mir persönlich hat diese Video-Zusammenstellung einen sehr guten Überblick ermöglicht. Gerne empfehle ich sie als tiefergehenden Theorieeinstieg weiter, hier daher nur das, was ich für meinen späteren Brückenschlag zwischen Wilber und Frankl benötige.

Die Integrale Theorie von Ken Wilber ist eine umfassende und holistische Theorie, die versucht, alle Aspekte des menschlichen Lebens und der Realität zu integrieren. Wilber argumentiert, dass es vier grundlegende Perspektiven [vier Quadranten] gibt, aus denen ‚Welt‘ betrachtet werden kann: die innere und äußere Perspektive des Individuums sowie die kollektive innere und äußere Perspektive der Gesellschaft.

  • Die Innere Perspektive des Individuums (Innenwelt der Person), adressiert die Werte, Haltungen, Einstellungen, Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen, Empfindungen, Motive einer Person – letztlich ihr ‚Selbstkonzept‘.
  • Die Äußere Perspektive des Individuums (Innenwelt der Person ins Außen übertragen) nimmt Wissen, Fähigkeiten, Verhaltens- und Handlungsmuster, verbale und nonverbale Kommunikationsformen, den Lebens-/Erziehungs-/Führungsstil usw. einer Person in Augenschein.
  • Die Innere Perspektive des Kollektivs (konkrete Außenwelt als Summe aller Innenwelten und ihrer Vernetzungen) fokussiert unter anderem auf den Umgang miteinander, den kulturellen Hintergrund, Sprache, geteilte Werte.
  • Die Äußere Perspektive des Kollektivs (abstrakte Außenwelt) betrachtet unter anderem die Strukturen im sozialen System, Technologien, Produkte und Dienstleistungen, Formen sozialer Beziehungen, Prozesse, Gesetze.

In jedem dieser vier Quadranten finden sich unterschiedliche, sogenannte Entwicklungslinien [siehe dazu die oben empfohlene Videoreihe], deren Auswahl kontextuell vorgenommen wird. Durch verschiedene Wissenschaftler wurden unter anderem erforscht: die kognitive, die emotionale, die ethisch-moralische, die ästhetische, die zwischenmenschliche, die spirituelle Entwicklungslinie und einige weitere mehr. Pragmatisch verweisen Entwicklungslinien auch auf Rollen, die Menschen zum Beispiel beruflich einnehmen. Erst kommt der Schüler, der sich für ein Fach interessiert, dann ein Lehrling, dann ein Geselle, dann der Meister usw. – mit jeder Rollenentwicklung hat sich eine Person in aller Regel auf verschiedenen Linien weiterentwickelt. 

Oder: Begleitet ein Therapeut zum Beispiel einen Klienten, der einen Sterbehilfewunsch äußert, indem er mit diesem Gespräche über bestehende Werteverwirklichungsmöglichkeiten führt, so würden diese Gespräche den Quadranten ‚innere Perspektive des Individuums‚ adressieren. Würde der Klient nach diesem Gesprächen seine Einstellung zum Thema Sterbehilfe überdenken, weil er einen von ihm bislang nicht wahrgenommenen Sinnimpuls erfühlt hat, so birgt eine diesem Impuls folgende Einstellungsmodulation in seinem Sterbehilfewunsch das Potenzial für ein neues Niveau auf der Entwicklungslinie ‚Wertebewusstheit‘.

Der Therapeut könnte zudem auch die ‚Äußere Perspektive des Individuums‘ betrachten und dabei einen Blick auf die Entwicklungslinie ‚kognitives Lernverhalten‘ des Klienten werfen. Sollte er dabei aus den Erzählungen und gegebenenfalls verfügbaren Dokumenten des Klienten herauslesen können, dass dieser sich in seinem Leben immer wieder intensiv und selbstmotiviert mit komplexen Sachverhalten auseinandergesetzt hat, so könnte dies ein Hinweis dafür sein, dass das vorgetragene Sterbehilfeanliegen auf einen autonomen, rational geprägten Lebensstil verweist und zum Beispiel nicht mehr ein Punkt auf der Linie ist, wo ein Mensch aus einem eher unreflektierten negativen Affekt heraus seinem Leben ein Ende bereiten will.

Würde der Therapeut nun nicht versäumen, auch die ‚Innere Perspektive des Kollektivs‘, so wäre ein Aspekt über den er mit dem Klienten spräche vielleicht der Reifegrad des gesellschaftlichen Umfeldes, in dem der Klient lebt. Hier wäre womöglich die ‚moralische‘ Entwicklungslinie des Kollektivs und ihr Umgang mit individuellen existenziellen Themen wie Leid, Tod oder Abschied ein Aspekt. Gäbe der Klient zum Beispiel zu verstehen, dass sein Umfeld das Thema Sterbehilfe tabuisiert und ein offener Diskurs dort erschwert ist, ließe sich durch eine therapeutische Unterstützung, die auf eine Vergrößerung der sozialen Kontakte hinwirkt, eine bessere Kommunikation auf Augenhöhe erreichen.

Und letztlich könnte der Therapeut auch den Quadranten der ‚abstrakten Außenwelt‘ ansprechen. Hier könnte angeschaut werden, wie sich auf der Entwicklungslinie des ‚medizinischen Fortschritts‘, der dem Klienten vielleicht nicht hinreichend bewusst ist, eine neue Perspektive erschließen ließe.

Kontextbezogen führt ein ‚integraleres Denken‘ also stets zu einer ersten Vergrößerung der Komplexität durch Anschauung der Vielzahl relevanter Entwicklungslinien. Und für jede dieser Entwicklungslinien kann nun ein Gespräch über die Entwicklungsebene [der Wertekontext] vorgenommen werden. [Spätestens an dieser Stelle treten meist die Kritiker auf, die die Wilbersche Theorie bereits als zu abstrakt, komplex und anwendungsunfreundlich bewerten. Jedoch, bei Themenstellungen die in ihrer Folgenabschätzung als riskant, existenziell, ressourcengefährdend oder irreversibel gelten, bietet die Investition in eine Methode, die die ohnehin gegebene Komplexität adäquat abbildet, einen angemesseneren Zugang zur Bewältigung als zum Beispiel leichtgängige und viele Einflussfaktoren ausblendende Wenn-Dann-Logiken.]

Nun also erste Worte zu den Entwicklungsebenen: In seinen Schriften schlägt Ken Wilber oftmals eine Brücke zu  den Forschungsergebnissen des New Yorker Psychologieprofessors Clare W. Graves. Das nach ihm benannte Graves Value System ist eine Theorie der menschlichen Entwicklung. Sie beschreibt, wie Menschen im Laufe ihres Lebens verschiedene Denk- und Verhaltensmuster entwickeln und wie sich diese Muster im Kontext ihrer kulturellen und sozialen Umgebung verändern. Der zentrale Transporteur neuer Muster ist dabei die Kommunikation.

Werden Ideen, Gedan­ken und Infor­mations­muster durch Kommu­nika­tion verbreitet und reproduziert, so kann dies als kul­tu­rel­les Pendant zum bio­chemischen Gen aufgefasst werden. Zusammengefasst könnte man von kulturellen Strukturen oder von Schemata sprechen, die sich mittels Kommunikation re­pro­duzieren, mit der Umwelt in­ter­agie­ren und sich dieser anpassen. 

Graves argumentierte, dass sich die menschliche Entwicklung solcher Schemata je nach den auf das Individuum einwirkenden Themen dynamisch von einer Ebene zu einer neuen Ebene vollzieht. Jede neu entwickelte Ebene und der mit ihr verbundenen neuen spezifischen Art des Empfindens, Denkens, Fühlens und Handelns gründet letztlich auf einem erweiterten Werte-System. Ein Werte-System, das alle Werte davor entwickelter Ebenen einschließt und diese um die Werte ergänzt, die für den Umgang mit den Themen auf der aktuell entwickelten Ebene erforderlich sind.

Wird einem gegenwärtig individuell oder gesellschaftlich relevantem ‚Thema‘ ein adäquates ‚Schema‘ zur Seite gestellt, so nenne ich diese Kombination aus Thema und Schema nun ein ‚kontextstimmiges Meme‘ oder auch eine ‚passende Gegenwarts-Bewusstheit‘. Wird jedoch einem Thema ein für seine Bewältigung unpassendes Werte-System – ein unpassendes Meme – zur Seite gestellt, so bewirkt dies eine Eskalation in Form von Problemen, Konflikten, Hindernissen oder auch Krisen.

Arbeiten wir uns nun mit einer ersten Skizze an die von Graves destillierten Werte-Systeme heran:

Die ersten beiden Werte-Systeme, die von Graves identifiziert wurden, sind das Instinkt-System und das Tribal-System. Diese beiden Systeme sind stark von den physischen Bedürfnissen und den Anforderungen der Überlebenssicherung geprägt und betonen die Bedeutung von Sicherheit, Schutz und Zugehörigkeit.

Die nächsten drei Werte-Systeme sind das Autoritäts-System, das Leistungs-System und das Selbst-Verwirklichungs-System. Diese Systeme betonen jeweils die Bedeutung von Hierarchie, Erfolg und persönlichem Wachstum und Entfaltung.

Die bislang letzten drei Werte-Systeme, die von Graves beschrieben wurden, sind das Integrative-System, das Holistische-System und das Systemisch-Integrale-System. Diese Systeme betonen die Bedeutung von globaler Zusammenarbeit, umfassendem Verständnis und Integration aller Perspektiven.

Graves betonte, dass diese Werte-Systeme nicht hierarchisch angeordnet sind, sondern dass sie sich in einer dynamischen Wechselwirkung und Entwicklung [vergleiche dazu die Terminologie von Wilber: ‚Einbeziehen‘ und ‚Transzendieren‘] befinden. Individuen und Gesellschaften können sich von einem System zum anderen entwickeln, je nach den Anforderungen und Herausforderungen, denen sie begegnen.

2023 – neu: 5. Defizienz und die Kritik am Status Quo der Wilber’schen Theorie

Zahlreiche philosophische Denker wie Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Auguste Comte, Herbert Spencer oder der in den letzten Texten bereits genannte Jean Gebser haben Beiträge zur Erklärung gesellschaftlicher Wandlungs- und Entwicklungsprozesse geleistet. Der unter anderem von Gebser ins philosophische Feld geworfene Begriff der Defizienz postuliert dabei eine besondere gesamtmenschliche Fähigkeit. Sie besteht in meiner Anschauung darin, dass eine große Gruppe von Menschen [zum Beispiel die deutsche Gesellschaft] mit ihren zahllosen Einzelinteressen dennoch in der Lage ist, eine Fortschreibung des an seine Kapazitätsgrenzen geratene ‚Mehrheitsbewusstseins‘ als ‚Irrtum‘ anzuerkennen und in dessen Folge in die Bereitschaft zu investieren, ein den Anforderungen an die Zukunftsfähigkeit besseres gesamtmenschliches Bewusstsein schöpferisch herauszuformen.

Wann die Summe der kritischen Faktoren erreicht wird, die das Platzen einer Defizienzblase begünstigt, stellt natürlich das Forschungsinteresse jeder Einzelwissenschaft entlang der gesamtgesellschaftlichen Wissensentwicklung dar. Und nicht erst seit gestern wissen wir, dass das Platzen einer dieser Blasen Wechselwirkungen in alle anderen zeitigt. Platzt eine Blase, so ist das mit ihr unmittelbar verbundene System an seine Grenzen gekommen. Zuweilen und frühzeitig erkannt, kann eine solche Grenze entlastet werden, zuweilen aber platzt sie und hinterlässt chaotische Zustände. Die Grenzen des Wachstums, die Grenzen des Wissens, die Grenzen der Freiheit, die Grenzen der Verantwortung, die Grenzen der Werte, die Grenzen des Lebens oder – im Kontext dieser Beiträge rund um das Theoriegebäude von Ken Wilber – die Grenzen des Bewusstseins: An diesen und vielen weiteren Grenzen spielen sich Prozesse ab, in denen es letztlich für Wilber um die Kunst des Einbeziehens und Transzendierens geht.

Der einzelne Mensch, der sich betroffen fühlt von den herumfliegenden Fetzen einer oder mehrerer – womöglich bislang als stabil empfundenen – Facetten des eigenen Lebensmodells sieht sich zahllosen Fragen konfrontiert. Eingefärbt von der individuellen psychischen Verfassung fragen sich Menschen, ob und was sie eingedenk der neuen [Grenz-]Situation zu erdulden haben, ob und für was sich zu kämpfen lohnt oder ob es günstiger ist, das Lebensmodell partiell zu verabschieden, indem die Auseinandersetzung mit dem Neuen gemieden oder verdrängt wird.

Will man sich von diesen drei psychischen ‚Auswegen‘ das eigene Leben nicht alles vorschreiben lassen, so bieten sowohl Frankl als auch Wilber einen anderen Weg: Den Weg der Transzendenz. Einmal darin geübt, diesen – nur Menschen möglichen – Weg zu gehen, fällt es leichter anzuerkennen, dass jedes Platzen einer Bewusstseins-Defizienzblase mit Gewinnen und Verlusten einhergeht, der Glaube an ‚bessere‘ Zeiten also ebenso hinderlich ist wie der Glaube daran, dass früher alles besser war. Das, was sich an die Stelle dieser Glaubenssätze stellt, ist die jedem Menschen mögliche neue Balancierung von Freiheit und Verantwortung. War der Mensch vor dem Platzen der Blase frei, in seinem Leben Felder seiner Verantwortung zu bestimmen, so wird er mit dem Platzen der Blase verantwortlich, neue Felder seiner Freiheit zu entdecken. Gelingt ihm dieser Entwicklungssprung, so hat der Mensch eine Bewusstheit dafür bewiesen, dass ihm daran gelegen war, aus der Defizienz des Gewesesen und Gewordenen heraus in den Gewinn einer neuen räumlichen und zeitlichen Freiheit einzutreten.

Während es nun in der konkreten Anwendung des Gedankenguts von Viktor Frankl im Rahmen der Entwicklungsbegleitung von Menschen zahllose Belege dafür gibt, dass Menschen dieser Perspektivenwechsel gelingen kann, stellt sich die Frage, ob und wie die Integrale Theorie von Ken Wilber mit ihrer Grundidee des ‚Einbeziehens und Transzendierens‘ ihrerseits bereits auf robusten Beinen steht und Menschen Handlungsalternativen aufzeigt, die über die der individuellen psychischen Reaktionen auf das Platzen von Defizienzblasen hinausgehen. Dazu ein Blick in die jüngste Vergangenheit.

Als Wilber 1999 sein Opus magnum ‚Sex, Ecology, Spirituality‘ vorlegte und mit ihm zum Versuch einlud, ohne Rekurs auf eine ‚fertige Theorie‘ in einem weltoffenen Diskurs alle Erkenntnisse natur-, human- und geisteswissenschaftlicher Denkansätze mit all ihren prämodernen, modernen und postmodernen Weltsichten von Ost bis West und Nord bis Süd in ein zusammenhängendes Gesamtgebäude zu integrieren, war die Euphorie mancherorts überwältigend. Endlich traute sich jemand, dem ewigen Treiben nach mehr Wissen im allertiefsten Detail einen alternativen Zugang zur Welt zur Seite zu stellen. Und da neue Ideen meist nur dann Chance auf Gehör haben, wenn sie kommunikativ breit ausgerollt werden, fanden sich schnell Protagonisten, die die Weichen stellten, um eine kritische Masse zu erreichen  – und [sic!] mit dieser Masse auch Geld zu verdienen. Wer damals dieser Entwicklung folgte, konnte den Eindruck gewinnen, dass konventionelle Denkmuster immer stärker in Frage gestellt wurden und dies nicht nur auf der Basis von Entwicklungssprüngen in Einzelwissenschaften oder einzelnen Gesellschaftsbereichen. Es schien ein Ruck durch die Welt zu gehen.

Die seismische Welle erreichte auch mich. Auf Einladung nahm ich teil an der Konzeption der vom Bundesland Niederösterreich initiierten Internationalen Zukunftsakademie in Wien Ende der 1990er Jahre, ich besuchte verschiedene Lehrgänge im integralen Denken und studierte einiges an Literatur im Kontext der neuen Bewegung. Nach und nach – und bis heute – wurde Ken Wilber Raum in meinen Coachingausbildungen als auch im konkreten Coaching von Führungskräften gegeben – jedoch längst nicht in dem Umfang, der möglich gewesen wäre. Die Gründe meiner – bisherigen – Zurückhaltung will ich knapp umreißen und damit auch meine – weiterhin – kritische Position. Sie besteht im Kern darin, dass es in meiner Wahrnehmung den an sich aberwitzigen Prozess im Kreis der Integralen Community gibt, das, was unter ‚integralem Denken und Handeln‘ verstanden werden soll, mit einer ähnlichen Detailverliebtheit zu erforschen wie ebendiese als Ausgangskritik für die Theorie im Raum stand. Die Folge dieses ‚Energieflusses‘ ist bis heute für mich spürbar und ist mit der Formel ‚Erkenntnisgewinn statt Handlungsraumvergrößerung‘ beschrieben. Bis heute vermisse ich insbesondere – und ich hoffe, dies beruht nur auf meinen eigenen blinden Flecken – eine ‚integrale Lautstärke‘ von Anwendern, die über die Defizienzblasen im Kontext mächtiger globaler Erschütterungen sprechen. Verenge ich den Blick auf die Äußerungen derjenigen gesellschaftlichen Elite, die ich mit meinen Ressourcen verarbeiten kann, so fehlt mir jeglicher ausgesprochener Brückenschlag zwischen integraler Theorie und Themenbergen wie Klimawandel, Armutsbekämpfung, der Idee der Vereinigten Staaten von Europa, Bildungspolitik bis hin zu vermeintlich ‚unmittelbareren‘ Problemfeldern wie Fachkräftemangel, Verkehrsinfrastruktur, Sterbehilfe und vielem mehr. Da, wo hierzulande dieser Brückenschlag vielleicht am ehesten zu erwarten wäre, an den deutschen Hochschulen, findet sich der Diskurs über Ken Wilber überhaupt nicht [zumindest teilt er sich damit die ärgerliche curriculare Ignoranz, die auch dem Begründer der Dritten Wiener Schule für Psychotherapie, Viktor Frankl, permanent zuteil wird].

Es entsteht so die Frage, wann die spezielle Defizienz, die mir offenkundig der Kommunikation von Wilbers Theoriegebäude anhaftet, ihrerseits platzt und sich der Möglichkeitsraum für ihre konkrete Anwendung mit ihren Chancen für die Gesellschaftsentwicklung eröffnet. Weitergedacht stelle ich mir die Frage, wann die Suche nach den eine Anwendung ‚unmöglichmachenden Theorieaspekten‘ zugunsten eines vielleicht ‚nur‘ paretooptimalen Beginns der Theorie-Praxis-Transformation hintangestellt wird. Denn, soweit sind sich die Kritiker einig, unschön sind in Wilbers Denkarchitektur Allgemeinplätze, von ihm als Konsens hingeworfene persönliche Meinungen, eine zuweilen skurrile gurueske – vielleicht den US-amerikanischen Erwartungen an Entertainment entsprechende – Selbstdarstellung, die Nichtberücksichtigung von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen oder auch Quellenverweise, die in unserem Kulturkreis das Prädikat ‚unwissenschaftlich‘ verdienen würden. Diese Mangellage jedoch als ausreichend für die Nichtbetrachtung des Meta-Werkes anzusehen, ist in einer Welt, in der die immer weiterführende Detailbetrachtung auch nicht stets und exklusiv das Mittel der Wahl ist, zumindest frivol.

Blendet man das Imperfekte in Wilbers Gedankengut aus, so lohnt doch allemal, seine Theorie mit konkreten gesellschaftspolitischen wie individuellen Problemstellungen in eine praktische Verknüpfung zu überführen. In meinem eigenen Themenfeld der ‚Individuellen Krisenprävention‘ und den dort erarbeiteten Unterstützungstools hat Wilber bereits seine Spuren hinterlassen. Beim Blick ins Web finden sich weitere, wenn auch nur wenige Anwendungsbeispiele, insbesondere im Kontext der Führungskräfteentwicklung, der Unternehmenskulturanalyse oder des Meetingmanagements. So recht konkret jedoch will der Wilbersche Funken noch nicht auf die Probleme des ‚Menschen-Alltags‘ überspringen. Anlass genug, dass ich im Verlauf der weiteren Beiträge Anregungen zu eben diesem Transfer vorstelle.

2023 – neu: 4. Zwei Facetten der Transzendenzfähigkeit

Transzendieren und Einbeziehen sind für Wilber die beiden Seiten der Medaille ‚Bewusstseinsentwicklung‘. Es braucht beides. Und beides vermögen Wesen mit Bewusstsein. Jedoch, es herrscht die Ansicht vor, dass sich Bewusstsein nicht kontinuierlich entwickelt, sondern sprunghaften, diskontinuierlichen Wandlungen unterliegt. Erst, sobald eine Bewusstseinsstruktur ‚defizient‘, erschöpft ist und sich destruktiv auszuwirken beginnt, gelangt eine andere, neue zum Durchbruch. Diesem Entwicklungsverständnis, das zum Beispiel vom Schweizer Bewusstseinsforscher Jean Gebser vertreten wurde, haftet ein reaktives Menschenbild an. Es muss erst etwas geschehen, was die Defizite der bisherigen Entwicklung offenlegt und sich in extremo zu einer existenziellen Krise [in meinem Verständnis eine destabilisierende, demotivierende und desintegrierende Situation, die einer Person den Zugang zu ihrer per se gegebenen Transzendenzfähigkeit blockiert] ausformt. Dann erst könne sich Bewusstseins-Entwicklung vollziehen.

Was aber meint nun ‚Bewusstsein‘? Gängig ist die Definition, dass es sich um die Gesamtmenge aller Sinnesempfindungen, Gedanken und Emotionen handelt, die einem Menschen im Kontext eines bestimmten Zeitraums bewusst sind und über die er aus der Erste-Person-Perspektive berichten kann. Es konnte mir bislang nicht einleuchten, warum diese ‚Gesamtmenge‘ erst defizient werden muss, damit eine Person ihr Bewusstsein weiterentwickelt und damit ihre Transzendenzfähigkeit ‚re-aktiviert‘. Ich will nicht in Frage stellen, dass wahrgenommene Entwicklungsdefizite einen Turbo zünden können, das Feld des Bewusstseins zu vergrößern. Ebenso wenig will ich aber bezweifeln, dass das gegenwärtige Bewusstsein eines Menschen stets eine Vorstellungskraft darüber bereithält, die die Transzendenzfähigkeit in einem künftigen Möglichkeitsraum adressiert. Wäre diese spezifisch menschliche Fähigkeit nicht gegeben, wären zahllose nicht-defizitbasierte, selbstgesteuerte Lernprozesse in ein bislang unbekanntes Wissensfeld hinein ebenso Unfug wie die Behauptung, man hätte auf etwas eine Vorfreude oder man hätte eine Vision einer Welt von morgen oder man hätte eine Krisenprävention betrieben im Sinne einer Verantwortungsübernahme, die über den Umgang mit der eigenen Person hinausreicht.

Defizienz als einzigen Ausgangspunkt von Bewusstseinsentwicklung zu fixieren wird daher meines Erachtens der Sache nicht gerecht. Sie kann ein Ausgangspunkt sein, ebenso aber auch ein Erste-Person-Perspektivenraum, der aus einem Überschuss an Transzendenzfähigkeit – an der Fähigkeit, sich in Liebe oder Hingabe auf eine Person [die man nicht selbst ist] oder eine Aufgabe [die nicht dem Eigenwohl dient] auszurichten – pro-aktiv in Bewusstseinsentwicklung mündet.

Meine Frage an Ken Wilber lautet daher: Kann dem Reduktionismus: ‚Der Mensch ist nichts anderes als ein sich erst durch eskalierende Bewusstseinsdefizite entwickelndes Wesen‘ ein Holismus: ‚Der Mensch ist ein Wesen, dessen proaktive Bewusstseinsentwicklung durch Selbstvergessenheit initiiert wird‘ gegenübergestellt werden?

Bevor ich auf die Antwortsuche gehe, will ich aber in Ergänzung zum ‚Prozess-Begriff‘ Bewusstsein noch den bereits bemühten ‚Moment-Begriff‘ Bewusstheit definieren. Ihn werden wir benötigen, um ‚Malus-Momente‘, in denen Bewusstseinsentwicklung aus einem Defizit heraus geschieht, von ‚Bonus-Momenten‘, verstanden als Bewusstseinsentwicklung aus Selbstvergessenheit [so man dies, ähnlich wie bei Frankl, auch in Wilbers Theorie finden sollte], differenzieren zu können.

Bewusstheit soll verstanden werden als psychische Disposition, die das unmittelbare Wahrnehmen dessen beschreibt, was einen Menschen in eigener Achtsamkeit im Hier und Jetzt bewegt und ihm aktuell durch Körperempfindungen, Sinneswahrnehmungen, Gefühle, Phantasien, Denkweise und Impulse gewahr wird [in der Achtsamkeitsmeditation nennt man dies auch ‚offenes Gewahrsein‘].

2023 – neu: 3. Transzendenz und Einbeziehung

Ken Wilbers Ärger würde ich nach meinem Verständnis metaphorisch so umschreiben: Die Menschheit weiß heutzutage viel über das linke hintere Bein einer Spinne, im letzten Detail, in der vermeintlich letzten Ausdifferenzierung. Dennoch setzt die Wissenschaft viel Energie ein, um auch noch das letzte Haar an diesem Bein, das letzte Folliken an diesem Haar usw. zu erforschen. Forschung heute wird so zu einer Disziplin, die wie ein Ringen um den richtigsten Blick ins tiefste Detail anmutet. Was aber auf der anderen Seite fehlt, ist Überblicksforschung. Und dieser Überblick geht auch beim Blick auf den Menschen leicht verloren – in der Frankl’schen Psychotherapie nennen wir dieses Phänomen Overdetermination. Damit ist gemeint, dass wir die Psyche des Menschen diagnostisch in so viele Einzelteile zerlegen und einer Untersuchung unterziehen können, dass der Blick auf die ganze Person mit der Fokussierung über die einzelnen Teile hinweg verloren geht. Sich den Blick auf Alles nicht dadurch zu verunmöglichen, weil man gefangen ist mit seinem Blick durch ein Schlüsselloch, würde ich als das Motto der von Wilber formulierten Integralen Theorie ansehen.

Der 1949 in Oklahoma City geborene Philosoph versucht daher, alle Forschungsbereiche in einem einzigen Modell des Weltverständnisses zu integrieren. Dabei folgt er der Idee, dass jedes Wissensgebiet mindestens einen Aspekt von ‚Wahrheit‘ enthält, es mithin ein förderliches Vorgehen sei, eine Versöhnung von Allem anzustreben, anstatt über Abwertungsprozesse zwischen den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen Energievergeudung zu betreiben, die es der Menschheit erschwert, sich weiterzuentwickeln [wer aus dieser Perspektive auf aktuelle Reizthemen wie die Energiewende schaut, kann meines Erachtens leicht erkennen, wie Individualinteressen im Mikrokosmos oder das Lobbying von gebündelten Brancheninteressen eine solche konstruktive Versöhnung erschweren].

„Niemand ist schlau genug, um immer zu 100 % falsch zu liegen“, meint Wilber ironisch. Und so könnte es doch im Gegenteil schlau sein, sich auf das wirklich Schlaue, das Jeder und Jedes bereithält zu konzentrieren. Ein schlichtes Beispiel dazu: Auf einem Kongress für Logotherapie stellte einst der Osnabrücker Psychologe Julius Kuhl seine Persönlichkeits-Systeme-Interaktionen-Theorie vor. Nach wenigen Powerpoint-Folien sagte er: „Das war nun der Kern der Theorie aus einem Buch mit 700 Seiten. Sie müssen es sich eigentlich nicht mehr kaufen.“ Das Schlaueste hatte Kuhl vorgestellt. Nun, ich habe das Buch doch gekauft, nicht aber, um einen vielleicht in der ein oder anderen statistischen Berechnung des Professors gemachten Fehler ausfindig zu machen oder um mich über all die wichtigen Einzelschritte hin zum Schlauen kundig zu machen, sondern um die Anknüpfungsmöglichkeiten der von Kuhl beschriebenen Aspekte der psychischen Dimension mit den von Frankl dargelegten Aspekten der geistigen Dimension herauszuarbeiten. Die Verknüpfung des aus meiner Sicht ‚Schlauen‘ beider Perspektiven fand anschließend Einzug in eigenen Publikationen – ein winziger Schritt, der längst nicht die Vorstellung Wilbers adressiert, würde dieser doch die Schlauheitsverknüpfung deutlich weiter auslegen. Er würde wohl dazu ermuntern, bei einer gegebenen Forschungsfrage [bei mir die Frage, wie das Schlaue von Kuhl und Frankl im Kontext eines Modells individueller Krisenprävention genutzt werden kann] neben den Theorien der Psychologie auch die der Theologien, Soziologien, Ökonomien, Biologien, Philosophien … in eine Art ‚Theory of Everything‘ aufzunehmen.

Alles hängt mit allem zusammen. Will man diese Erkenntnis nicht als Binsenweisheit verstehen, sondern als Anruf ans Denken, so wird die Begrenztheit des eigenen kognitiven Möglichkeitsraums schnell wahrnehmbar. Wir leben in Ausschnitten von Welt und jeder Versuch, diesen Ausschnitt zu vergrößern, setzt die Bereitschaft voraus, die Aufmerksamkeit lange auf das Feld des Neuen zu lenken und sich zu hemmen, allzu schnell wieder in die Arme des Bekannten zurückzufallen. Die Erweiterung der Denkwelt bedingt eine Haltung der Weltoffenheit, und Offenheit erwartet einen gelasseneren Umgang mit Unsicherheit, Staunensbereitschaft, Reflexivität und einer entwickelten Intuition, die Spreu vom Weizen trennen zu können [Stichwort Fake News]. Offenheit führt also auch dazu, dass neue Theorien und deren Protagonisten Einfluss auf das eigene Leben nehmen dürfen. Das ist schon allerhand.

Meine eigene Offenheit den Wilberschen Gedanken gegenüber hat zu tun mit einem starken Lernmoment bei der Literatur seiner Theorie [zu zentralen Inhalten wird in den Folgebeiträgen mehr Auskunft gegeben]. Im Kern führte dieser Moment bei mir zu der Erkenntnis, dass jede Handlung und jede Entscheidung aus einer spezifischen Jetzt-Bewusstheit gespeist wird und dass Situationen dann zu Krisen eskalieren, wenn die betroffene Person für diese spezifische Situation nicht über die für sie angemessene Bewusstheit verfügt, diese auch nicht in angemessener Schnelligkeit entwickeln kann und letztlich mit ihrem unvollständigen Set an Bewusstheit versucht, dennoch der Lage Herr zu werden.

Eine Konsequenz dieses Gedankens ist nun die, dass ein Mensch, der von sich sagt, eine Krisensituation gemeistert zu haben, nicht in einer Krise gewesen sein kann, sondern [nicht abwertend gemeint ‚lediglich und immerhin‘] in der Lage war, eine komplex-komplizierte Problemstellung dank bereits vorhandener Ressourcen positiv zu wenden. Aus dieser Folgerung ergibt sich der nächste Gedanke, dass Menschen darin unterstützt werden sollten, Bewusstheiten für existenzielle Belastungssituationen präventiv zu entwickeln.

Zurück zu meinem Verständnis von Wilbers Integraler Theorie.

Wenn in allem, was in dieser Welt als Theorie gebildet wurde und wird, etwas Schlaues enthalten ist, dann unterscheiden sich Weiterentwicklungen dieser Theorien darin, den Grad an Unvollständigkeit im Sinne einer noch vorhandenen Unwissenheit oder Unverbundenheit des Bisherigen zu verringern. Alle Jetzt-Bewusstheit kann damit als erreichter Punkt auf einer nie endenden Achse der Bewusstseins-Entwicklung verstanden werden.

Als Beispiel dazu will ich einen Menschen anschauen, der sein Leben als brüchig ansieht, diesen Bruch mental wie emotional nicht zu schließen vermag und ihn mit dem Zustand ‚depressiv‘ etikettiert. Für einen solchen Menschen wäre es nun aus integraler Perspektive ein fundamentaler Denkfehler, würde er versuchen, diesen Zustand – in dem sich viel Schlaues verbirgt – ‚auslöschen‘ zu wollen [die Psyche hat eine Reihe von Taktiken auf Lager, einen solchen Löschvorgang zu initiieren. Selbstschuldzuweisung, Sucht oder auch Suizid sind nur einige davon]. Wagt hingegen die Person einen individuellen Evolutionssprung, so gelingt dieser eben nicht durch Auslöschung, sondern durch „Transzendieren und Einbeziehen“ [Wilber]. Jeder wirklich neue Punkt auf der Achse der Bewusstseinsentwicklung folgt diesem Prinzip, quasi von der einzelnen Zelle bis hin zum gesellschaftlichen System bis hin zum Kosmos. Jedes Weiterentwickelte hat Vorhergehendes einbezogen und es durch Transzendenz in eine neue Bewusstheit überführt, in etwas Wesentlicheres vervollständigt.

Anmerkung: Ein ‚wirklich neuer Punkt‘ entspricht in meinem Verständnis des Werks von Viktor Frankl einem Sinnimpuls. Einen solchen Impuls hält nach Frankl die Welt jedem Menschen zu jeder Zeit bereit – so er sich diese Welt ‚offen‘ hält. In der KrisenPraxis habe ich diesen Aspekt der Sinntheorie Frankls hinreichend beleuchtet, und es bleibt spannend, ob und in welcher Weise nun Ken Wilber diesen Gedanken in seiner Integralen Theorie aufgreift und seinerseits transzendiert.

2023 – neu: 2. Individuelle Messlatten in der Bewertung der Theoriegüte

Das Haltbarkeitsdatum von Theorien gehört für mich zu den spannendsten Aspekten in der Wissenschaftswelt. Jeder Mensch, der schon ein paar Jahrzehnte lebt und seine Wachheit in seinem, meist beruflichen, Tätigkeitsfeld bewahrt hat, wird sich an Theorien erinnern, die einst als Hype in jedem Meeting, in jeder Fachzeitschrift, in jeder Weiterbildung Erwähnung fanden, unglaubliche Summen für Qualifizierungen und Zertifizierungen verschlangen, ihre Kenntnis als Kriterium für persönliche Karrierewege galt  oder ganze Wertschöpfungsketten veränderten. Zumeist waren und sind diese Theorien mit dem Namen einzelner oder weniger Personen verbunden. In meinen ‚Gewerken‘ der Betriebswirtschaftslehre und der Psychologie reihten sich irgendwann nach Erich Gutenberg und Eugen Schmalenbach Wissenschaftler wie Peters und Waterman, Hammer und Champy, Nonaka und Takeuchi, Drucker und Malik und viele weitere Vor- und Nachdenker der mittel- oder unmittelbaren Unternehmensführung. Nicht weniger zahlreich begleiten mich bis heute die Protagonisten psychologischer ‚Schulen‘. Ob Freud, Adler, Jung, Berne, Bühler, Maslow, Rogers und – natürlich – Viktor Frankl, sie alle inspirierten. Von den starken ‚Seitenarmen‘, die aus der Soziologie und Systemtheorie, den Kunst- und  Geschichtstheorien und – natürlich – der Philosophie stammen, ganz zu schweigen.

Irgendwann knarrt das Regal eingedenk des Gewichts der vielen Bücher, es brummt der Schädel und man begreift, dass sich manch früherer Hype relativiert oder abgenutzt hat, manches sich schlau weiterentwickelt hat, aber nur weniges wirklich dauerhaft trägt und bis heute robust geblieben ist.

Dem Rat zu folgen: ‚so prüfe, was sich ewig bindet‘ ist nicht wirklich voraussetzungslos. Welche sind die individuellen Messlatten, über die eine Theorie springen muss, um als robust zu gelten und für das eigene [Arbeits-]Leben eine Grundlage zu bieten? Für mich sind es drei Messlatten.

Die erste adressiert die Frage: Worüber hat sich der Wissenschaftler geärgert [was war ihm arg], so dass ihn dieser Ärger dazu aufrief, sich ans erforschende Werk zu machen? Wenn mich die sich aus dem Ärger ergebende Forschungsfrage ebenso reizt, dann freue ich mich darüber, mitzudenken und bei eigener Kompetenz auch ein Mitentwickler zu sein [allzuoft bescheide ich mich jedoch aus Mangel an Primärkompetenz mit einer Zuschauerrolle, wenn es beispielsweise um die Fragen geht, die sich die Physiker im CERN, die F&E Teams in der pharmazeutischen Industrie oder die Philosophen im Kontext ethischer Fragen im Umgang mit der KI stellen].

Die zweite schaut auf das Menschenbild, das der Theorie ihr Fundament verleiht. In vielen Theorien und ihren Operationalisierungen bleibt der anthropologische Hintergrund völlig ungeklärt, in anderen zeigt sich rasch ein Reduktionismus im Sinne eines ‚der Mensch ist nichts anderes als …‘. Für mich ist hier Vorsicht geboten, insbesondere dann, wenn eben dieser Reduktionismus – so sehr er sich für eine Forschung im Kontext begrenzter Ressourcen auch anbieten mag –  nicht explizit gemacht wird, sondern im Gegenteil aus ihm heraus ein subtiler Wahrheitsanspruch über die zuvor ‚reduzierte‘ Forschungsfrage hinaus abgeleitet wird. Eine robuste Theorie stellt in meinem Verständnis hingegen dann ein System wissenschaftlich begründeter Aussagen zur Erklärung bestimmter Tatsachen oder Phänomene dar, wenn darauf verzichtet wird, sie implizit bereits als ‚allumfassend‘ vorzustellen.

Und als dritte Messlatte ist für mich von Interesse, in welcher Weise aus der Theorie heraus für die heutigen Fragen der Menschheit handlungsorientierte Antworten gegeben werden oder abgeleitet werden können. Was hat die Theorie für den Lebensvollzug konkret mitzuteilen? Kann sie uns Menschen logisch, wie ethisch und ästhetisch voranbringen? Nachdem ich mir diese drei Messlatten vorgelegt und sie als Rahmen um die Sinntheorie von Viktor Frankl gezogen habe, fühlt es sich für mich stimmig an, diese als robust zu bezeichnen und sie in meiner eigenen Lebensführung und im Kontext meiner Arbeitsleistungen als Kompass einzusetzen. Hier in der KrisenPraxis steht nun für mich an, in ähnlicher Weise auf die Integrale Theorie von Ken Wilber zu schauen.

2023 – neu: 1. Bewusstheitsentwicklung als Reifungskonzept und Krisenprävention

Im wissenschaftlichen Arbeiten steht in der Regel eine zentrale Forschungsfrage im Vordergrund. Auch in meiner eigenen Fokussierung als Therapeut und Krisentheoretiker gibt es eine solche Frage. Sie lautet: Müssen Menschen Krisen erleben, um zu reifen? In der Entwicklungspsychologie und Psychotherapie gibt es zahlreiche Autoren, die ein solches Erfordernis postulieren [in der KrisenPraxis wurde darüber von mir schon geschrieben]. Ich will nicht in Frage stellen, dass Krisensituationen mit ihren unterschiedlichen Bewährungsproben nach ihrem hoffentlich guten Ausklang Menschen dazu befähigen, mit künftigen extremen Belastungssituationen besser umgehen zu können. Aber ist es angemessen und human, entlang der heutigen Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung und Prävention immer noch der Ansicht zu sein, ‚der Mensch müsse immer nur einmal mehr aufstehen als er hingefallen ist‘? Meine knappe Antithese lautet: Nein, Krise muss nicht sein, um als Mensch reifen zu können.

Welche Alternative bietet sich für einen selbstgesteuerten Reifungsprozess an? Zwei Perspektiven folge ich, seit ich mir meine Forschungsfrage vor vielen Jahren vorlegte. Die erste gründet im Menschenbild des österreichischen Arztes und Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl.

Frankl sieht den Menschen an als sinnstrebiges Wesen. In zahlreichen Texten in der KrisenPraxis habe ich Frankls Werk im Krisenkontext reflektiert und vorgestellt. Stark zusammengefasst bringt Frankl zum Ausdruck, dass ein Mensch, dessen Leben durchdrungen ist von einem Sinn, auch existenziell schwierigsten Situationen mit ihren Belastungen auf psychischer und-oder körperlicher Ebene trotzen kann. Sinnfindung ist damit gleichsam Krisenprävention und die Prozesse der Sinnfindung stellen für meine konkrete Entwicklungsarbeit mit Menschen die eigentlichen und humanen Reifungsschritte von Menschen dar. Die Stichworte in diesem Kontext lauten Selbsttranszendenz, Trotzmacht des Geistes, Weltoffenheit, Freiheit und Verantwortung.

Die zweite Perspektive, die aus meiner Sicht in der Lage ist, das Werk von Viktor Frankl in eine spannende Erweiterung zu führen, ist die Integrale Theorie des amerikanischen Philosophen Ken Wilber. In seiner holistischen Theorie argumentiert er, dass es vier grundlegende menschliche Betrachtungen auf die Welt gibt: Die innere und äußere Perspektive des Individuums sowie die kollektive innere und äußere Perspektive der Gesellschaft. Was dies bedeutet, soll unter anderem Thema von Folgebeiträgen werden.

Innerhalb dieser vier Perspektivenfelder können nun nach Wilber verschiedene Entwicklungslinien [beispielsweise eine kognitive, eine emotionale, eine ästhetische Linie und zahlreiche mehr] und auf diesen wiederum verschiedene Bewusstheitsebenen ausgemacht werden, die ein Individuum oder eine Gesellschaft durchlaufen kann. Diese Ebenen können von einer primitiven Instinkt- und Impulssteuerung bis zu einer höchsten Stufe der integralen Bewusstheit reichen. Jede dieser Bewusstheiten hat ihre Berechtigung und ihren situativen Auftrag. Jede ist wichtig und keine besser oder schlechter als eine andere. Jedoch, eine Bewusstheit, die in einer Situation zum Einsatz kommt, kann angemessen oder unangemessen sein. Um im Kontext einer Krise nun eine angemessene Bewusstheit zu ihrer Bewältigung einzusetzen, ist es zweckdienlich, die individuell- oder system-biografische Entwicklung der Bewusstheit anzuschauen, ihre Lücken zu erkennen und selbstgesteuert zu schließen sowie Vorurteile abzubauen, die nicht selten entstehen, wenn ein Mensch [oder ein System] wahrnimmt, wie ein oder mehrere andere Menschen [oder Systeme] einen gegebenenfalls völlig anderen Umgang zum Beispiel mit einer Belastungssituation pflegen. Auch hierüber wird in der KrisenPraxis zu gegebener Zeit berichtet werden.

Die Integrale Theorie von Ken Wilber hat viele Anhänger und Befürworter, aber auch Kritiker, die argumentieren, dass die Theorie zu abstrakt und komplex und dass ihre Anwendung in der Praxis schwierig sei. Diese letzte Ansicht kann ich nicht teilen – aber ohne Bereitschaft, sich vielschichtiger als vielleicht üblich mit der Frage zu befassen, mit welcher Bewusstheit ein einzelner Mensch oder kleine wie große Systeme von Menschen ihren Umgang mit Themenstellungen [zum Beispiel hier im Fokus ‚Krise‘] pflegen, lässt sich Wilbers Konzept nicht greifen.

Aber, dieser Aufwand lohnt, denn die Integrale Theorie kann auf verschiedene Bereiche angewendet werden, einschließlich persönlicher Entwicklung, der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, der Entwicklung einer Gesellschaftsform, einer Institution, eines Unternehmens, eines Vereins, einer Familie – und deren Kultur.

Nachdem die ‚Sinnfindung‘ im Konzept Frankls bereits umfassend beleuchtet wurde, soll nun also die Bewusstheitsentwicklung im Konzept Wilbers in meinen nächsten Beiträgen in dieser KrisenPraxis vorgestellt werden. Dabei werde ich anfangs einige Begriffsbestimmungen vornehmen, die mir in eigener Arbeitspraxis hinreichend anschlussfähig in der Arbeit mit meinen Klienten sind. So meine Ausführungen von Wilber-Insidern gelesen werden sollten, so können diese vielleicht andere Termini oder Beschreibungen für ‚richtiger‘ halten. Diesen Dissenz muss und werde ich gerne in Kauf nehmen.