Im wissenschaftlichen Arbeiten steht in der Regel eine zentrale Forschungsfrage im Vordergrund. Auch in meiner eigenen Fokussierung als Therapeut und Krisentheoretiker gibt es eine solche Frage. Sie lautet: Müssen Menschen Krisen erleben, um zu reifen? In der Entwicklungspsychologie und Psychotherapie gibt es zahlreiche Autoren, die ein solches Erfordernis postulieren [in der KrisenPraxis wurde darüber von mir schon geschrieben]. Ich will nicht in Frage stellen, dass Krisensituationen mit ihren unterschiedlichen Bewährungsproben nach ihrem hoffentlich guten Ausklang Menschen dazu befähigen, mit künftigen extremen Belastungssituationen besser umgehen zu können. Aber ist es angemessen und human, entlang der heutigen Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung und Prävention immer noch der Ansicht zu sein, ‚der Mensch müsse immer nur einmal mehr aufstehen als er hingefallen ist‘? Meine knappe Antithese lautet: Nein, Krise muss nicht sein, um als Mensch reifen zu können.
Welche Alternative bietet sich für einen selbstgesteuerten Reifungsprozess an? Zwei Perspektiven folge ich, seit ich mir meine Forschungsfrage vor vielen Jahren vorlegte. Die erste gründet im Menschenbild des österreichischen Arztes und Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl.
Frankl sieht den Menschen an als sinnstrebiges Wesen. In zahlreichen Texten in der KrisenPraxis habe ich Frankls Werk im Krisenkontext reflektiert und vorgestellt. Stark zusammengefasst bringt Frankl zum Ausdruck, dass ein Mensch, dessen Leben durchdrungen ist von einem Sinn, auch existenziell schwierigsten Situationen mit ihren Belastungen auf psychischer und-oder körperlicher Ebene trotzen kann. Sinnfindung ist damit gleichsam Krisenprävention und die Prozesse der Sinnfindung stellen für meine konkrete Entwicklungsarbeit mit Menschen die eigentlichen und humanen Reifungsschritte von Menschen dar. Die Stichworte in diesem Kontext lauten Selbsttranszendenz, Trotzmacht des Geistes, Weltoffenheit, Freiheit und Verantwortung.
Die zweite Perspektive, die aus meiner Sicht in der Lage ist, das Werk von Viktor Frankl in eine spannende Erweiterung zu führen, ist die Integrale Theorie des amerikanischen Philosophen Ken Wilber. In seiner holistischen Theorie argumentiert er, dass es vier grundlegende menschliche Betrachtungen auf die Welt gibt: Die innere und äußere Perspektive des Individuums sowie die kollektive innere und äußere Perspektive der Gesellschaft. Was dies bedeutet, soll unter anderem Thema von Folgebeiträgen werden.
Innerhalb dieser vier Perspektivenfelder können nun nach Wilber verschiedene Entwicklungslinien [beispielsweise eine kognitive, eine emotionale, eine ästhetische Linie und zahlreiche mehr] und auf diesen wiederum verschiedene Bewusstheitsebenen ausgemacht werden, die ein Individuum oder eine Gesellschaft durchlaufen kann. Diese Ebenen können von einer primitiven Instinkt- und Impulssteuerung bis zu einer höchsten Stufe der integralen Bewusstheit reichen. Jede dieser Bewusstheiten hat ihre Berechtigung und ihren situativen Auftrag. Jede ist wichtig und keine besser oder schlechter als eine andere. Jedoch, eine Bewusstheit, die in einer Situation zum Einsatz kommt, kann angemessen oder unangemessen sein. Um im Kontext einer Krise nun eine angemessene Bewusstheit zu ihrer Bewältigung einzusetzen, ist es zweckdienlich, die individuell- oder system-biografische Entwicklung der Bewusstheit anzuschauen, ihre Lücken zu erkennen und selbstgesteuert zu schließen sowie Vorurteile abzubauen, die nicht selten entstehen, wenn ein Mensch [oder ein System] wahrnimmt, wie ein oder mehrere andere Menschen [oder Systeme] einen gegebenenfalls völlig anderen Umgang zum Beispiel mit einer Belastungssituation pflegen. Auch hierüber wird in der KrisenPraxis zu gegebener Zeit berichtet werden.
Die Integrale Theorie von Ken Wilber hat viele Anhänger und Befürworter, aber auch Kritiker, die argumentieren, dass die Theorie zu abstrakt und komplex und dass ihre Anwendung in der Praxis schwierig sei. Diese letzte Ansicht kann ich nicht teilen – aber ohne Bereitschaft, sich vielschichtiger als vielleicht üblich mit der Frage zu befassen, mit welcher Bewusstheit ein einzelner Mensch oder kleine wie große Systeme von Menschen ihren Umgang mit Themenstellungen [zum Beispiel hier im Fokus ‚Krise‘] pflegen, lässt sich Wilbers Konzept nicht greifen.
Aber, dieser Aufwand lohnt, denn die Integrale Theorie kann auf verschiedene Bereiche angewendet werden, einschließlich persönlicher Entwicklung, der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, der Entwicklung einer Gesellschaftsform, einer Institution, eines Unternehmens, eines Vereins, einer Familie – und deren Kultur.
Nachdem die ‚Sinnfindung‘ im Konzept Frankls bereits umfassend beleuchtet wurde, soll nun also die Bewusstheitsentwicklung im Konzept Wilbers in meinen nächsten Beiträgen in dieser KrisenPraxis vorgestellt werden. Dabei werde ich anfangs einige Begriffsbestimmungen vornehmen, die mir in eigener Arbeitspraxis hinreichend anschlussfähig in der Arbeit mit meinen Klienten sind. So meine Ausführungen von Wilber-Insidern gelesen werden sollten, so können diese vielleicht andere Termini oder Beschreibungen für ‚richtiger‘ halten. Diesen Dissenz muss und werde ich gerne in Kauf nehmen.