Eigentlich ist Leben einfach – 4

  

Jeder Mensch hat ein einzigartiges Wertesystem. Hier und Jetzt tritt dieses System in Aktion – durch (versprachlichte) Verhaltensweisen, Handlungen oder Entscheidungen treten einzelne Werte in die Sichtbarkeit. Analog zum physischen System, dessen individuelle Besonderheiten zum Beispiel durch Wachstum, Bewegungen oder Beeinträchtigungen sichtbar werden und dem psychischen System, dessen Individualität sich zum Beispiel durch Affekte, Regungen oder (versprachlichte) Kognitionen und Emotionen zeigt.

Während das psychische und physische System zur [Gesund-]Erhaltung des Menschen ihre Beiträge leisten, dient das Wertesystem dazu, für die in der Lebenswelt auf die Person wartenden Aufgaben gerüstet zu sein. Auch die Werte, die vermeintlich dafür gut sind, dass sich die Person gut fühlt, haben – weiter gedacht – ihren eigentlichen Auftrag darin, dass die Person sich in guter Verfassung mit den Aufgaben aus ihrer Lebenswelt befassen kann. So hat beispielsweise der Wert ‚Gesundheit‘ und ein diesem Wert entsprechendes Verhalten vordergründig nicht nur den Selbstzweck, den Zustand von Wohlbefinden zu bewirken. Vielmehr dient die Verwirklichung des Wertes Gesundheit dafür, um all das zu erhalten oder wieder aufzubauen, was erforderlich ist, individuell sinnvollen Lebensaufgaben gerecht werden zu können.

Schauen wir nun auf die drei beispielhaft dargestellten Personen. Jede von ihnen hat ein indiviuelles und originäres Wertesystem. Im Rahmen einer Werteanalyse wurden die Werte jeder Person in Gruppen zusammengeführt – eine solche Clusterung kann verschiedenartig vorgenommen werden, zum Beispiel haben wir unsere über 400 LebensWerte mit dem Kontext individueller Motive in Verbindung gebracht. Dabei entstanden die acht Cluster: Macht-Freiheit, Leistung-Ruhe, Stabilität-Veränderung, Bindung-Trennung. Eine weitere Gruppierung geht zurück auf das von Professor Clare entwickelte Modell einer evolutionär begründete Werteentwicklung.

Graves beschreibt in seiner Theorie der menschlichen Bewusstseinsentwicklung einen Prozess der Vergrößerung von Verhaltens- und Handlungsräumen zum Zwecke der Bewältigung komplexer werdender Themenstellungen. Graves nimmt dazu in seinem werteevolutionären Ansatz an, dass jeder Mensch durch verschiedene Stadien der Bewusstseinsentwicklung geht, wobei jede entwickelte Ebene [sie werden auch vMeme-Ebenen genannt – v = value / Meme = spezifischer Bewusstseinsinhalt] durch ein Set an Grundüberzeugungen, Werten, Einstellungen und Haltungen repräsentiert wird. Für eine schnellere Unterscheidung dieser Ebenen werden in der Literatur Farben eingesetzt – Sie sehen sie unten in den kleinen Rauten zu Beginn neuer Textpassagen.

Zu Beginn der Vorstellung soll betont werden, dass keine vMeme-Ebene per se ‚besser‘ oder ’schlechter‘ als eine andere ist. Vielmehr soll der Aspekt in den Vordergrund rücken, dass es stets situativ eine passende Gegenwarts-Bewusstheit [ein passendes vWerte-Meme] braucht, ergo es bei einer Abfolge unterschiedlicher, zu bewältigender Situationen auch unterschiedlich angemessener vMeme-Ebenen bedarf [welche Folgen dies im Thema ‚Krise‘ hat wird in späteren Beiträgen diskutiert, ebenso die Kritik an diesem theoretischen Modell].

Die vMeme-Ebenen in einer ersten Übersicht:

 Das Beige-Meme ist die erste Ebene im Graves Value System. Als „Überlebensmeme“ geht es hauptsächlich um die Bewältigung des Themas ‚Befriedigung der Grundbedürfnisse wie zum Beispiel Nahrung, Schlaf, Wärme, Sex‘. Neben Neugeborenen zeigen auch Menschen unter Drogeneinfluss ein mit diesem Meme verbundenes reflex- und instinktgesteuertes Verhalten. Der Rahmen individueller Fähigkeiten, auf ihre Umwelt zu reagieren ist deutlich begrenzt, es wird im Hier und Jetzt gelebt. Im archaisch-urzeitlichen Beige-Meme gibt es noch kein Konzept von moralischen Werten oder sozialen Normen.

In unserer modernen Gesellschaft ist ein erwachsenes Verhalten und Handeln im Beige-Meme meist nur in existenziellen Krisen zu beobachten, wenn die Verwirklichung von Werten höher entwickelter Ebenen als nicht (mehr) möglich erscheint. Global betrachtet werden aber viele Menschen und Gemeinschaften durch die sie gefährdenden Rahmenbedingungen genötigt, ihr Verhalten und Handeln in diesem Meme zu zeigen. Wenn Menschen mit traumatischen Ereignissen konfrontiert werden, wie z.B. Naturkatastrophen, Krieg oder Hunger, dann werden sie auf ihre Bewusstheit, grundlegendste Überlebensbedürfnisse befriedigen zu müssen, zurückgeworfen. Ihre Verhaltensweisen werden dabei von tief verwurzelten Instinkten und Gewohnheiten bestimmt und sind eher spontan. Im urzeitlich Kontext ist dieses Meme mit Begriffen wie Sammeln und Jagen, klimabedingte Migration oder Bildung schützender und unterstützender Horden verbunden.

Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Beige-Meme zeigen sich negative Auswirkungen darin, dass Menschen sich in ständiger Angst vor Bedrohungen befinden und sich auf ichbezogene Überlebensstrategien konzentrieren, ohne sich am Aufbau sozialer Strukturen oder höherer Werte zu beteiligen.

 Das Purpur-Meme ist die zweite Bewusstheits-Ebene im Graves Value System. Auf ihr entsteht erstmals ein Wir-Bezug und eine Bewusstheit für den Wert einer Gemeinschaft. Die Suche nach einem gemeinsamen Daseins-Zweck und einer verbindenden Identität wird gestärkt durch den Glauben an Symbole, Rituale und Übernatürliches. Das Streben nach Harmonie mit den Kräften der Natur und erste Formen einer Kulturentwicklung – zum Beispiel Musik, Tanz oder erzählende Überlieferung – sind Merkmale dieses Meme. Ein starkes Bedürfnis nach Gemeinschaft, Zusammenhalt, Sicherheit und Geborgenheit in der Gruppe und ihre Befriedigung mittels zeremonieller Handlungen sowie ihre Empfänglichkeit für magische Momente zeigt sich auch heute unter anderem bei religiösen Gemeinschaften. Mit einer intensiven emotionalen Verbundenheit mit ihrer Gemeinschaft, die ohne institutionelle Klammer auskommt, betrachten Menschen im Purpur-Meme die Welt als ein geheimnisvolles und oft unerklärliches Universum, in dem alles miteinander verbunden ist.

Obwohl das Purpur-Meme auf den ersten Blick als naiv oder dem Kleinkindalter entsprechend erscheinen kann, ist es von großer Bedeutung in der menschlichen Entwicklung. Auf dieser Ebene steht das Lernen durch Nachahmung und damit ein tiefes Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit in einer Gruppe im Vordergrund.

In unserer modernen Gesellschaft ist ein erwachsenes Verhalten und Handeln im Purpur-Meme oft im Thema ‚dazugehören wollen‘ zu beobachten. Familiär geprägte Organisationen, Stammeskulturen, Cliquen und Clans werden als Orte der Sicherheit empfunden, und die Anpassungsfähigkeit an das Gruppenverhalten gilt als notwendige Bedingung dafür, nicht in die Angst zu verfallen, aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden. Loyalität gegenüber Ältesten und die Tradition der Gruppenkultur werden gepflegt; Kinder werden als Alterssicherheit angesehen.

Wenn Menschen mit Bindungs- und Vertrauensverlusten konfrontiert werden, wie dies z.B. bei der Scheidung der Bezugspersonen in der frühen Kindheit oder bei der Trennung von der Gemeinschaft durch Umzug entstehen kann, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Purpur-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen irrationalem Glauben, magischen Praktiken oder Sektierertum verfallen.

 Eigene Bedürfnisse nach Individualität zeigen sich im Graves Value System erstmals im Rot-Meme. Verhalten sich Menschen bei spezifischen Themen entlang dieses Werte-Meme, so zeigen sie ihr Bedürfnis nach Macht, Kontrolle und Dominanz an. Für Bedürfnisse anderer bringen sie in diesen Kontexten ein eher geringes Verständnis auf. Sie glauben an die Stärke und Überlegenheit des Individuums gegenüber der Gruppe und lehnen Autorität und Kontrolle ab, wenn sie nicht zu ihrem eigenen Vorteil sind.

Einen Vorgeschmack auf dieses Meme zeigen Kinder in der pubertären Trotzphase, wenn sie mit Einschüchterung und Kraft anderen ihren egozentrierten Willen aufzudrücken versuchen. Auch eine Tendenz zur [subtilen, manipulativen, kommunikativen oder physischen] Gewalt und Aggression ist möglich, wenn es darum geht, persönliche Ziele zu erreichen. Die ‚Siegen-wollen-Mentalität‘ steht dabei im Einklang mit einem Weltbild, das den Kampf um Ressourcen und Macht als erforderlich ansieht, das auf Omnipotenz oder gar Unsterblichkeit setzt und in dem Kritik von Außen als persönlicher Angriff und Beleidigung angesehen wird. Ein weiteres Merkmal des Rot-Memes ist ein impulsives, ‚aus-dem-Bauch-heraus-Handeln‘, ohne Rücksicht auf Konsequenzen oder die Bedürfnisse anderer. Eine sofortige Bedürfnisbefriedigung wird ungeduldig  angestrebt und die kleine oder große Welt ist dafür die Plattform, auf der Macht und Willenskraft demonstriert wird.

In unserer modernen Gesellschaft ist das ichzentrierte Rot-Meme durchaus präsent. Meist negativ konnotiert, wenn es sich im Kontext von Feudalherrschaften, dem Drang zum Erhalt von Imperien, Heldenverehrung kriegerischer Eroberungen, Gewalt in der Familie, Korruption usw. zeigt. Als positiv wird das Rot-Meme erlebt, wenn es um die persönliche Entschlusskraft geht, in passenden Situationen direktive Anweisungen mit Energie und Verve mitzuteilen oder wenn gegen Widerstände aus dem Umfeld der Wille für eigene Entdeckungen und Kompetenzaufbau aufrecht erhalten bleibt oder auch, wenn sich keine anderen Wege aufzeigen, gegen Unterdrückung oder Ohnmacht aufzubegehren.

Wenngleich das Rot-Meme auf den ersten Blick als egoistisch und unmoralisch erscheinen kann, ist es von großer Bedeutung in der menschlichen Entwicklung. Auf dieser Ebene wird das Bedürfnis nach Herrschaft und Selbstbestimmung erkannt und geschätzt. Es betont die Bedeutung von Autonomie und Selbstbestimmung und schafft damit eine Grundlage für persönliches Wachstum und Selbstverwirklichung.

Wenn Menschen mit der Abwertung ihres Platzes und ihres Status in der Gesellschaft konfrontiert werden, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Rot-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen dazu neigen, situativ ihre Selbstsucht auf Kosten anderer auszuleben, Machtmissbrauch oder Rache auszuüben oder einen Hang zum Narzissmus zu entwickeln.

 Das Blaue-Meme ist die vierte Entwicklungsebene im Graves Value System. Nach der Fokussierung auf beige Grundbedürfnisse, purpurne Gemeinschaft und rote Machtbewussheit geht es hier um die Schaffung von Ordnung, Stabilität und Sicherheit durch Einhaltung von Gesetzen, Regeln, Vorschriften und Strukturen. Institutionen versprechen mit ihren Hierarchien Sicherheit in einer unberechenbaren Welt. Die Bewusstheit, dass für bestimmte Themen ein Schema wie Autorität, Gehorsamkeit, Disziplin, Moral oder auch Konvention und die Bewahrung ethischer Standards passend ist, verweist auf ein geringes Verständnis für Nuancen und Abweichungen. Die situative blaue Bewusstheit neigt zu einem Schwarz-Weiß-Bewertungsmuster, zu einer strengen Auslegung von Überzeugungen und kulturellen Normen.

Menschen mit entwickeltem Blau-Meme schätzen situativ die Ausrichtung an Tugenden, Sitten und aus ihrer Sicht moralischen Standards. Gradlinigkeit, Berechenbarkeit, Pflichtbewusstsein wird hoher Stellenwert beigemessen. Der Preis dafür kann sich in einer schnellen Polarisierung in gut-böse, richtig-falsch usw. zeigen, man bleibt unter sich und seinesgleichen, folgt Gesinnungsautoritäten, hält quasi-ideologisch an ewig Gültigem fest oder schwört Treue bis zum Schluss.

In unserer modernen Gesellschaft ist das wir-orientierte Blau-Meme dort präsent, wo Stabilität und Ordnung wichtiger sind als individuelle Freiheit und Kreativität. Politische, militärische, administrative und religiöse Institutionen sind oft blau geprägt. Die Einhaltung von Regeln und Vorschriften gilt dort als entscheidend für die Sicherheit der Gemeinschaft. Beim Einsatz einer blauen Bewusstheit wird auf hierarchische Systeme wie Kasten, Klassen oder Rassen rekurriert und sprachlich zeigen sich allerlei Grundüberzeugungen in Form von -ismen. Auch die Bereitschaft, sich für jemanden oder etwas zu opfern, um dafür später eine Belohnung zu erlangen, ist ein beobachtbarer Aspekt des Blau-Meme.

Wenn Menschen mit einer Diskreditierung der von ihnen geschätzten Strukturen, Ordnungen oder Regeln konfrontiert werden, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Blau-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen dazu neigen, andere selbstgerecht zu behandeln oder diejenigen zu unterdrücken, die nicht in ihr Weltbild passen. Sie können auch dazu tendieren, auf starre und kreative Problemlösungen erstickende Regeln und Normen zu setzen, anstatt – sofern entwickelt – auf ihr eigenes Urteilsvermögen und ihre eigene Intuition zu vertrauen.

 Auf der nächsten Werte-Ebene beschreibt Clare W. Graves eine Weltanschauung, die sich auf die Überwindung von Einschränkungen und die Maximierung des Erfolgs konzentriert. Das dabei eingesetzte Orange-Meme können wir auch das Meme der Leistung und des Wettbewerbs nennen. Menschen, die situativ dieses Gegenwarts-Bewusstheit in ihrem Verhalten präferiert zeigen, folgen ihrem Bedürfnis nach Verwirklichung von Werten und Motiven wie Fortschritt, Innovation, Leistung, Zielerreichung und Aufstieg. Eine starke Ausrichtung auf autonome Selbstverwirklichung, individuelles Wachstum und persönliche Entwicklung ist dann beobachtbar. Mit einer Tendenz zur Rationalität und Effizienz wird die Welt als eine Maschine angesehen, die optimiert werden kann, um maximale Ergebnisse zu erzielen. Zum Gelingen wird dabei auf wissenschaftliche Methoden und Analysen gesetzt, die als zweckdienlich für das Lösen komplexer Probleme angesehen werden.

In einer Gesellschaft ist das ich-zentrierte Orange-Meme dort weit verbreitet, wo messbarer Erfolg und das Ringen um Anteile an zu verteilenden Ressourcen eine wichtige Rolle spielen. In diesem Kontext neigt diese Ebene zu einer elitären Haltung, die Wachstum und Expansion heilig spricht und in der Loyalität auf Nützlichkeitsüberlegungen beruht. Als Ergebnis der Werteverwirklichung auf Orange locken Glück, Konsummöglichkeiten und Vergnügen.

Eine starke Kritik wird gegen dieses Meme laut, wenn die ihm zueigenen Verhaltens-/Handlungsweisen als reines Eigeninteresse an Status, Rang, Prestige, Profit oder auf Kosten anderer gehend empfunden werden. Der stark auf kurzfristige Ergebnisse fokussierte faktenbasierte Pragmatismus bei Entscheidungen im Orange-Meme wird zuweilen einerseits als bewundernswerter Handlungswille gewürdigt. Werden jedoch Manipulationen der Handelnden an der Natur, an Zahlenwerken, an menschlicher Integrität und Würde oder als Angriff gegen ein bestehendes Gerechtigkeitsgefühl von anderen Menschen wahrgenommen, so folgen auf der anderen Seite meist Einwände hinsichtlich der Auswüchse von Kapitalismus, Materialismus oder Individualismus.

Wenn Menschen mit der Abwertung ihrer Qualifizierung und ihres Erfolgswillens in der Gesellschaft konfrontiert werden, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Orange-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen dazu neigen, situativ ihre ‚Ellenbogen-Verdrängung‘ als taktisches Mittel zur Verteidigung zum Beispiel ihrer erreichten Karrierestufe auszuleben, selbstgefährdende Arbeitsüberlastungen einzuleiten oder zuzulassen oder einen Hang zu einem der zahlreichen Facetten eines Suchtverhaltens zu entwickeln.

Das Orange-Meme zeigt, dass die menschliche Entwicklung nicht auf der Ebene der Gemeinschaft und Stabilität stagnieren muss, sondern dass wir in der Lage sind, uns auf individueller Ebene weiterzuentwickeln und persönliche Erfolge zu erzielen. Wie bei allen anderen Meme auch, zeigt sich die individuelle oder kollektive menschliche Entwicklung in Form einer Reise, bei der jede erreichte Ebene auf den vorherigen aufbaut. [Anmerkung: Auch das Beige-Meme, das ich als  Überlebens-Meme vorstellte und das unter anderem die Gegenwarts-Bewusstheit des Neugeborenen beschreiben hilft, hat entsprechende Vorläufer. Beim Neugeborenen sind es die elterlich entwickelten Bewusstheitsebenen auf der Entwicklungslinie “Rolle als Vater/Mutter‘. Je nach Meme kann die Rolle, die sich beispielsweise ein Vater zuschreibt umrissen werden als Familienmensch und Beschützer (purpur), Oberhaupt der Familie (rot), Erziehungsberechtigter und Versorger (blau), Antiautoritärer Trainer und Wissensvermittler (orange), Empathischer Gesprächspartner und Wertevermittler (grün). Es liegt nahe anzunehmen, dass eine präferierte Rollenbewusstheit als mitprägender Einfluss auf die psychische Entwicklung des Kindes ab dessen Beige-Meme einwirkt.]

 Mit dem Grün-Meme erreichen die Bewusstheits-Ebenen die Werte im Kontext von Menschlichkeit, Gleichheit, Kooperation, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit. Im individuellen oder kollektiven Verhalten zeigt sich ein Streben nach Harmonie, Ausgleich in Beziehungen und in der Gesellschaft als Ganzes, eine starke Betonung von Toleranz und Akzeptanz gegenüber unterschiedlichen Lebensstilen und Meinungen sowie eine auf Diversität und Inklusion achtende Grundhaltung. Dass jeder Mensch gleiche Rechte und Chancen haben sollte, führt im Grün-Meme zur Verhaltenstendenz, die persönliche Entwicklung mit sozialen Verantwortlichkeiten zu verbinden. Menschen auf dieser Stufe suchen nach einem sozialen Zweck in ihrem Leben und engagieren sich entsprechend.

In vielen modernen Gesellschaften zeigt sich das wir-orientierte Grün-Meme insbesondere bei Einzelpersonen, Gruppen, Institutionen und Organisationen, die einen Schwerpunkt ihres Engagements den vielen Brennpunkten widmen, die im Kontext der Kritik an einer zu starken Leistungsgesellschaft (orange) entstehen und sich in den Themen wie Armutsbekämpfung, Bildungsgerechtigkeit, Fairness gegenüber Minderheiten, Chancenfeldern für Migranten, gerechtere Ressourcenverteilung, Weltgesundheit und vielen mehr zeigen.

Das Grün-Meme wird so als Gesellschaftsbild vorgestellt, in dem ein dogmatisches Klammern an vorausgegangenen Bewusstheits-Ebenen abgelöst wird durch einen pluralistischen und relativistischen Zugang zur Welt. Dieser Zugang ist verbunden mit zahlreichen Forderungen zum Beispiel an eine neue political/people/social/ communicative/ …- correctness, an eine konsensuale Streitkultur, tragfähigere Strukturen für soziale Teilhabe, Infragestellung unbegrenzter Wachstumsphantasien, Nivellierung einst diskriminierender Rollen und Klassenunterschiede, Dezentralisierung von Entscheidungsstrukturen oder dem Lebenswohl für alle Lebewesen.

Kritiker des Grün-Meme argumentieren, dass die Betonung von Gleichheit und Zusammenarbeit auf Kosten individueller Freiheiten und persönlicher Leistung gehen kann. Konstruktiv wird dabei betont, es sei lohnend, ein Gleichgewicht zwischen diesen Werteebenen zu finden und sicherzustellen, dass alle Stimmen gehört und berücksichtigt werden. Destruktiv wird dieses Meme als Zeitgeist-Phantasma etikettiert, das nicht in der Lage sei, sich den globalen Weltkonflikten schnell und wirkungsvoll entgegenzustellen.

Wenn Menschen mit der Abwertung ihrer gemeinwohlorientierten Verantwortungsbereitschaft konfrontiert werden, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Grün-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen dazu neigen, situativ ihre weisheitsbeanspruchende Selbstgefälligkeit regelbrechend auf Kosten anderer auszuleben oder spezifische Formen einer Gesinnungsethik durchsetzen zu wollen. Aber auch das Phänomen, Konflikte zu vermeiden und Entscheidungsprozesse auf Kosten der Effektivität und Leistungsfähigkeit zugunsten einer Gruppenidentität zu entschleunigen, zeigt sich situativ.

Insgesamt verweist das Grün-Meme darauf, dass menschliche Entwicklung nicht auf der Ebene der individuellen Leistung stagnieren muss, sondern dass wir als Gesellschaft in der Lage sind, uns auf sozial verantwortungsvolle Weise weiterzuentwickeln.

Mit den nächsten Werte-Ebenen, beginnend mit dem Gelb-Meme, öffnet sich ein neuer Raum der Weltbetrachtung. Ein Raum, der sukzessive immer mehr systemische, holistische und kosmische Aspekte für die Bewältigung komplexer überindividueller Themenstellungen vorhält und auf den sich nur unpassende Antworten in den Meme bis einschließlich Grün finden lassen.

 Das erste dieser Ebenen ist das Gelb-Meme, das oft als Stufe der Integration und des Systemdenkens bezeichnet wird. Es repräsentiert eine komplexe und integrative Sichtweise auf die Welt, bei der Menschen die Welt als ein System betrachten, in dem alles miteinander verbunden ist [also auch alle Werte-Ebenen bis einschließlich Grün] und wo es erforderlich ist, verschiedene Perspektiven und Weltanschauungen zu integrieren und zu verstehen, ohne sich auf eine bestimmte Sichtweise festzulegen. Mit dieser umsichtigen Haltung des Einschließens aller Zugänge zur Lösung komplexer Probleme leistet das Gelb-Meme einen Beitrag zu einer mentalbarrierefreieren Kommunikation.

Dem Gelb-Meme liegt es an sich fern, andere Werte-Ebenen abzuwerten, vielmehr können Menschen in Situationen, die dieses Meme erfordern, mehrere Standpunkte einnehmen und gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten [eine Fähigkeit, die jedoch häufig bei Menschen, die das Gelbe-Meme noch nicht integriert haben, Irritationen hervorruft, weil sich diese Menschen womöglich einen festen Standpunkt, eine klare Ansage oder eine schnelle Lösung erhoffen, zu denen Gelb entlang ihrer Entwicklungsgeschichte eine gewisse Distanz aufgebaut haben]. Die Verhaltens- und Handlungsweisen des Gelb-Meme wirken integrierend und sind befreit von Erwartungen anderer und von Bindungen aus der Vergangenheit. Das Bedürfnis nach öffentlicher Anerkennung ist gering, das nach Wissen, Flexibilität und Kompetenzentwicklung hat Vorrang vor Macht, Status oder Gruppenempfindlichkeiten.

Obwohl das Gelb-Meme ein Menschenbild adressiert, das den Menschen so nimmt wie er werden könnte und die Wege, die er ging, um zu werden, der er heute ist, lediglich als Grundlage für weitere Entwicklungsschritte ansieht, gibt es auch Kritik an dieser Ebene. So wird argumentiert, dass die Betonung systemischeren Denkens zu einem Mangel an Akzeptanz früher entwickelter Werte führen kann oder dass Entscheidungen, die situativ mit dem Gelb-Meme getroffen werden, Menschen nicht dort abholen, wo sie stehen. Bei dieser Kritik wird jedoch womöglich übersehen, dass es zur Entwicklung des Gelb-Memes oft genug die Konfrontation mit Themen bis ‚grün‘ gab und dass Menschen, die diese Bewusstseinsentwicklung zu Gelb vollzogen haben, auf authentische Beispielgeber in ihrer Biografie verweisen können, durch deren gelber Weltanschauung eine positive Wirkung auf gesellschaftlich hochkomplexe Themenstellungen beobachtbar war.

Zudem muss einem Menschen, der sich hin zu Gelb entwickelt bewusst sein, dass sich der kommunikative Zugang zu vielen Menschen alleine deshalb erschweren kann, weil diese in ihrem Alltag mit Themenstellungen konfrontiert werden, die diese Werte-Ebene nicht benötigen. Der Preis, den Menschen mit einem entwickelten Gelb-Meme dann zuweilen zu zahlen haben, ist eine Art intellektueller Verarmung. ‚Stell Dir vor, die Probleme werden hochkomplex und keiner denkt der Situation angemessen mit‘ – wer sich in einem solchen Umfeld wahrnimmt, muss lernen, auf psychischer Ebene mit Entfremdungsgefühlen umzugehen. Demgegenüber steht im Gelb-Meme ein hohes Maß an Reflexion und Wertebewusstsein, das dabei hilft, eigene Grenzen und die Wirkung eigener Überzeugungen zu erkennen und zu akzeptieren. Die Einstellung, Wissen in den Kontext eines unendlichen Prozesses zu stellen und als Konsequenz davon Bildung als kontinuierlichen Prozess lebenslangen Lernens anzusehen, kann konstruktiv zu einer Blickfelderweiterung führen, die das Finden von Lösungen an für viele andere Menschen unerwarteten Stellen ermöglicht. Negative Auswirkungen einer unverhältnismäßigen Betonung des Gelb-Memes wären hingegen endlose Diskussionen und Reflexionen, ohne zu praktischen Lösungen zu kommen. Auch die Vernachlässigung der Bedeutung von emotionalen Aspekten und menschlichen Beziehungen werden bei Gelb zuweilen beobachtet.

 Noch über dieses systemische Gelb-Meme hinaus verweist eine Verhaltens- oder Handlungsweise von Menschen, die situativ eine ganzheitliche Sicht auf die Welt einnehmen: es das im Graves Value System genannte Türkis-Meme. Menschen auf dieser Werte-Ebene haben ein wirkliches Verständnis davon, dass alle Dinge in einem größeren Kontext miteinander dynamisch verbunden sind und dass ihre Handlungen und Entscheidungen die Welt um sie herum ebenso dynamisch beeinflussen.

Eine wichtige Eigenschaft des Türkis-Meme ist die Fähigkeit, Paradigmenwechsel voranzutreiben. Menschen auf dieser Stufe sind in der Lage, neue Ideen und Konzepte zu entwickeln, die grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft bewirken können. Sie haben ein tiefes Verständnis dafür, dass allgesellschaftlich komplexe Probleme nur durch ganzheitliche und integrative Ansätze gelöst werden können. In meinem Verständnis wäre eine Rolle im türkisen Meme die eines Gesellschaftscoachs, und in meiner Hoffnung entspräche diese Meme-Bewusstheit auf politischer Ebene die eines Bundespräsidenten, der seinen Beitrag dafür leisten will, die Gesamtgesellschaft  auszurichten auf Themen, die zeitlich weit über das Leben aller hinausreicht, die aktuell Bürger des Staates sind.

Das Türkis-Meme wird zwar oft mit spirituellen Traditionen und östlichen Philosophien in Verbindung gebracht, da es eine starke Betonung auf Achtsamkeit, Mitgefühl und das Streben nach höheren Bewusstseinszuständen hat. Diese Erklärung greift jedoch zu kurz, denn anderen Meme-Ebenen eben diese menschlichen Qualitäten indirekt abzusprechen, ist mit der tiefen Gelassenheit, mit der im Türkis-Meme auf das Wohl aller Menschen und des Planeten geschaut wird, nicht vereinbar. Vielleicht ist es angemessener, dieser Werte-Ebene die Form eines holistischen Weisheitsvertrauens zuzuschreiben, das den Gedanken, dass jedwedem Problem eine Lösung – wo und wann auch immer – gegenübersteht, mit dem Willen integriert, Hindernisse, die das Finden dieser Lösungen erschweren, mit Besonnenheit und Demut zu identifizieren und zu kommunizieren. Eine günstige Konkretisierung auf Verhaltens- oder Handlungsebene erfährt das Türkis-Meme in konsensbasierten und allfriedensorientierten Kooperationen mit Selbstorganisation und Selbstregulierung innerhalb der Gesellschaft. Dem Blick auf die Welt als eine unteilbare Einheit wird eine gesamtweltliche Suche nach geistig sinnvollen Wegen für die drängenden Probleme, für wen, wo und wie sie sich auch immer zeigen, zur Seite gestellt. Gelingt der Transfer des Türkis-Meme in praktisches Handeln nicht, so zeigt sich womöglich eine Art Elfenbeinturm-Transzendenz, die mehr Welt-Distanzierung zum Ausdruck bringt als die der an sich dem Meme inhärenten Liebe zu tiefer Integration aller Perspektiven im Kontext der jeweiligen Themenstellung.

 Eher noch im Forschungsfeld der Bewusstseinspsychologie und daher hier nur minimal skizziert findet sich das Korall-Meme im Graves Value System. Auch dieses Meme ist geprägt von einem tiefen Verständnis der Einheit und Verbundenheit aller Dinge, doch zeigen Menschen, die Themen mit dieser Werte-Ebene adressieren, in ihrem Verhalten oder in ihren Handlungen einen kristallinen Glauben an das kosmische Mysterium und die Existenz von Meta-Ebenen des Bewusstseins.

Graves und Frankl im Berufskontext

Beige – Überleben. Frankl sieht in der Trotzmacht des Geistes die zentrale Ressouce dafür, auch die kritischsten Lebensmomente und Grenzerfahrungen meistern zu können.

Berufsbeispiel:
Eine Lagerarbeiterin verliert durch eine Unternehmensschließung ihre Existenzgrundlage. Sie weiß nicht, wie sie ihre Miete zahlen soll, die Angst lähmt sie. In diesem Moment findet sie Sinn, indem sie all ihre Kräfte mobilisiert: Sie organisiert kleine Nebenjobs, verzichtet auf Komfort, hält durch. Ihre Sinnfindung besteht darin, nicht zu resignieren, sondern Tag für Tag das Überleben ihrer Familie zu sichern – getragen von der inneren Freiheit, der Verzweiflung nicht das letzte Wort zu lassen.

Purpur – Zugehörigkeit. Frankl sieht in Beziehungen einen zentralen Ort der Sinnfindung, da hier Werte verwirklicht werden können, die durch Liebe, die Erfahrung der Einzigartigkeit anderer Menschen und die gegenseitige Zuwendung geprägt sind.

Berufsbeispiel:
Ein junger Softwareentwickler fühlt sich in einer neuen Stadt einsam und orientierungslos. Er zweifelt an seiner Entscheidung, den Job anzunehmen. Halt findet er, als er sich einem Kollegen-Stammtisch anschließt. Durch kleine Rituale – gemeinsames Kochen, wöchentliche Treffen – erlebt er Zugehörigkeit. Sinn entsteht nicht primär durch seine Arbeit, sondern durch das Gefühl, eingebettet und gebraucht zu sein. Er erkennt: In der Gemeinschaft findet er eine Aufgabe – füreinander da zu sein.

Rot – Macht. Frankl sieht in der Macht des Geistes die Person zur Stellungnahme aufgerufen.

Berufsbeispiel:
Eine Vertriebsmitarbeiterin erlebt, wie ihr Vorgesetzter sie ständig kleinredet und ihr Aufträge entzieht. Sie fühlt sich gedemütigt. Anstatt sich zurückzuziehen, beschließt sie, selbstbewusst ihre Ergebnisse sichtbar zu machen und ein eigenes Projekt durchzusetzen. Sie findet Sinn darin, sich gegen Ungerechtigkeit zu behaupten. Ihr Mut, Grenzen zu setzen und für ihre Würde einzustehen, macht die Situation erträglich – auch wenn das Risiko besteht, anzuecken.

Blau – Ordnung, Struktur, Pflicht. Frankl sieht die „Pflicht“, im Sinne einer Anerkennung der Verantwortung für die eigene Lebenswelt als einen wichtigen Weg zur Sinnfindung, indem man sich aktiv einer Sache widmet, indem man sich einer Person oder Gruppe hingibt, oder indem man auch in unveränderbaren Situationen die Einstellung bewahrt, über das eigene Ego hinauszuwachsen.

Berufsbeispiel:
Ein Beamter im Bauamt ist frustriert: Die Flut an Anträgen wächst, Bürger beschweren sich, er fühlt sich angegriffen. Er findet Sinn, indem er sich bewusst macht, dass seine Arbeit nicht nur Aktenberge bedeutet, sondern Rechtssicherheit für alle. Er sagt sich: „Wenn ich korrekt arbeite, ermögliche ich Menschen, ihre Häuser sicher zu bauen.“ Pflichtbewusstsein und die Treue zum Wert der Gerechtigkeit geben ihm Halt – er sieht seine Aufgabe im größeren Rahmen.

Orange – Leistung. In Frankls Sinnlehre wird ein Weg der Sinnfindung darin gesehen, schöpferische Werte wie Leistung, Arbeit oder Fleiß zu verwirklichen.

Berufsbeispiel:
Eine Ingenieurin wird durch Dauerstress und Konkurrenzdruck ausgebrannt. Sie fragt sich, wofür sie das alles macht. Sinn findet sie, als sie ein innovatives Produkt entwickelt, das Energie spart und Unternehmen nachhaltiger macht. Hier erkennt sie: „Meine Leistung trägt zu etwas bei, das über meinen Bonus hinausgeht.“ Ihr Wille zum Sinn verwandelt den bloßen Karriere-Ehrgeiz in ein Motiv, einen spürbaren Beitrag zu leisten.

Grün – Gemeinwohl.  Frankl zufolge lässt sich Sinn darin finden, indem man sich für etwas engagiert, das nicht auf einen selbst zurückfällt, also für eine Aufgabe, ein Projekt oder für andere Menschen.  

Berufsbeispiel:
Eine Teamleiterin in einer NGO erlebt Überlastung: zu viele Projekte, zu wenig Ressourcen. Sie droht, sich im Chaos zu verlieren. Sinn findet sie, indem sie auf die Bedürfnisse ihres Teams eingeht: Sie organisiert Gesprächsrunden, fördert gegenseitige Unterstützung. In dem Moment, in dem sie erlebt, dass ihre Arbeit die Menschen um sie herum stärkt, spürt sie: „Auch wenn es anstrengend ist – wir schaffen gemeinsam etwas, das trägt.“

Gelb – Integration und systemisch-synergetisches Denken. Frankl gibt zu verstehen, dass der Mensch nie frei ist von Bedingungen aller Art [hier können wir auch alternativ sagen, nie frei ist von Bedingungen im Kontext der vMeme von Beige bis Grün], die sein Leben mitbestimmen. Aber er ist stets frei und verantwortlich für unendlich viele Perspektiven, die ihm den Bereich des Möglichen eröffnen.

Berufsbeispiel:
Ein Projektmanager arbeitet in einem internationalen Konzern, wo Kulturen und Abteilungen ständig aneinandergeraten. Konflikte und Sackgassen frustrieren ihn. Statt aber vorschnell Partei zu ergreifen, beginnt er, Muster zu analysieren und flexiblere Lösungen zu entwickeln. Er erkennt, dass er Situationen nicht beherrschen, sondern gestalten kann. Sinn findet er in seiner Freiheit, unterschiedliche Sichtweisen zu verbinden und neue Spielräume zu öffnen.

Türkis – Ganzheit. Frankl betont das eigentliche Humane, das Geistige (Spirituelle) der Person und damit – wie Max Scheler – die besondere Stellung des Menschen im Kosmos

Berufsbeispiel:
Eine Ärztin in einem Entwicklungsprojekt in Afrika erlebt Ohnmacht angesichts von Armut und Krankheit. Statt an der Überforderung zu zerbrechen, spürt sie Sinn darin, dass jeder geheilte Patient, jedes kleine Stück Aufklärung, Teil eines sehr viel größeren Prozesses der Heilung ist. Sie erkennt: Ihr Handeln ist eingebettet in das Ganze der Menschheit. Der Sinn liegt nicht in der schnellen Lösung aller Probleme, sondern darin, durch ihr Tun zur Balance des Lebens beizutragen.


 

  

Wenn wir nun die drei Personen mit ihren Wertesystemen –  gefärbt nach dem Graves System – anschauen, dann erkennen wir deutliche Unterschiede. Die Person links zeigt ein recht differenziertes Wertesystem mit einem weiten Spektrum, bei der mittlere Person dominieren die vMeme von rot, blau und orange und bei der rechten Person von orange, grün bis gelb.

Würde die rechte Person vor einer Aufgabe stehen, die einer ‚gemeinwohl orientierten‘ grünen Werte-Bewusstheit bedarf, dann kann angenommen werden, dass sie für diese Aufgabe Verhaltens- und Handlungsmuster bereit hält, die der Person in der Mitte aufgrund ihrer bisherigen Entwicklung noch nicht zur Verfügung stehen. Würde dieser, mittleren, Person die Aufgabe übertragen, wäre zu erwarten, dass sie mit ihr deshalb überfordert ist, weil sie mit ihren bestehenden Grundüberzeugungen der Komplexität der Aufgabe nicht gerecht werden kann. Würde dies nicht rechtzeitig erkannt, wäre zu erwarten, dass sie mit ihrer starken rot-blauen Wertebewusstheit versuchen würde, die Aufgabe anzugehen. Als Folge davon könnte sich über kurz oder lang ein kritisches Feedback ergeben, insbesondere von Personen, die über eine grüne oder darüber hinausreichende Wertebewusstheit verfügen. Der mittleren Person stünde nun zwar der Weg offen, die Werte zu entwickeln, sich also mit der Komplexität der Aufgabenstellung zu befassen und ‚ihr Mindset‘ entsprechend weiter auszurichten. Wird eine solche Entwicklung aber zum Beispiel aus Zeitdruck heraus erschwert und steht die Person dadurch bedingt unter Stress, darf die positive Aussicht auf eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung als eher erschwert eingeschätzt werden. Aus präventiver Sicht wäre es hier erfreulich, hätte die Person ihr Wertesystem rechtzeitig einmal analysiert, um sich darüber die Option zu bewahren, die sie potenziell belastende Aufgabe wertebewusst abzulehnen.

Wieder anders sieht es bei der Person links aus. Hier zeigt sich ein recht heterogenes Wertebild mit deutlichen Hinweisen auch auf eine gelbe und türkisfarbene Werte-Bewusstheit. Mit dieser Person müsste womöglich darüber gesprochen werden, wann sie die Übernahme der Aufgabe gegebenfalls langweilen könnte, da die Verwirklichung gelber und türkiser Werte bei dieser Aufgabe weniger in Aussicht steht.

Eigentlich ist Leben einfach – 3

Das genetische Substrat ist individuell einzigartig, aber nicht nur das. Für das Wertesystem eines Menschen gilt dies ebenso, wir können es metaphorisch als das noetische Substrat des Menschen verstehen – also als die geistig-seelische Grundlage, die sein Denken, Handeln und Erleben trägt. Viktor Frankl nennt die Werte einer Person ‚Sinn-Universalien‘, womit er zum Ausdruck bringt, dass jeder Mensch als Träger von Geist, Freiheit, Verantwortung und Würde auf Sinn ausgerichtet ist und den in jeder Situation gegebenen Sinn finden muss. Dabei wiederum unterstützt ihn sein individuelles und einzigartiges Wertesystem.

Aus Genetik und Noetik ergeben sich – hier beispielhaft dargestellt – drei in ihrer Lebenswelt agierende Personen, jeweils angesehen als ein absolutes Novum, als nie zuvor dagewesene und nie wieder in selber Form wiederkehrende Wesen.


                   stehen 

Stellen wir uns nun vor, diese drei Personen seien Kollegen, Freunde, Familienmitglieder oder durch andere Kontexte verbundene Menschen. Alle drei stehen gemeinsam vor einer belastenden Situation – es beginnt ein Kommunikationsprozess über Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungsoptionen. Alle drei wollen die Belastung durch die Situation mindern, jeder meint es auf seine Weise gut. Was nun, wenn sich trotz guter Absichten kein Ausweg findet? Wenn die Drei sich im „Ja, aber“ erschöpfen? Nicht selten wird der weitere Prozess dann über einen Machteinfluss [als Kompetenz, Geld, Status, Hierarchie …] gesteuert: ‚Ober sticht Unter‘; ‚Wer am lautesten spricht‘, ‚Wer zahlt, hat`s Sagen‘ … – wir kennen das. Wer von den Dreien wird ‚das Rennen‘ machen, die ‚finale Entscheidung‘ treffen, sich ‚durchsetzen‘ …? Wer wird wen damit womöglich ‚ab-werten‘?

Nehmen wir weiter an, die Situation ist nicht nur problematisch und belastend, sondern sogar eine zeitkritische Krisen. Hier einen langen Prozess der Konsensbildung in Kauf zu nehmen, wird sich kaum anbieten – ein (auch nicht immer) ‚billiges‘ Beispiel dafür ist die Frage, wer einen Elfmeter schießt, wenn es darum geht, die Meisterschale zu holen oder den Abstieg zu verhindern. Wer hier darauf trainiert ist, eben in diesem Moment die Nerven zu bewahren, das Getöse des Umfelds zu überhören und um seine Resilienz zu wissen, sollte die Aufgabe nicht zum gewünschten Ergebnis führen, der schnappt sich hoffentlich den Ball – oder soll er erst den Trainer, den Kapitän, das Publikum oder einen Telefon-Joker befragen?

Schauen wir genauer hin, dann finden sich in solchen Situationen auf der ‚Oberfläche‘ allerlei Kriterien, die Hinweise darauf geben können, warum Person X sich einer Krisensituation beherzt und mit Köpfchen annimmt: körperliche Fitness und psychische Belastbarkeit, stabiles persönliches Umfeld, ein bereits gut gefülltes Erfolgskonto, Qualifizierungen und manches mehr.

Schaut man tiefer, dann landet man letztlich im persönlichen Wertesystem – dem System, das sich ab der Kindheit immer weiter entwickelt und bis ins hohe Alter weiter entwickeln kann. Ein System, in dem elterliche Projektionen ebenso zu Hause sind wie selbständig beantwortete Lebensfragen. Je gereifter die Person ihre Selbst-Erfahrungen mit Selbst-Denken und Selbst-Fühlen vollzogen hat, je selbst-sicherer und selbst-vertrauensvoll kann sie sich den gegebenen Aufgaben stellen. Vielleicht bietet sich für ein solches ‚Gesamtpaket‘ vollzogener Reifung der Begriff ‚Selbst-Bewusstsein‘ an, ein Bewusstsein, das mit fortschreitender Entwicklung im Hier und Jetzt zu einer ‚Selbst-Bewusstheit‘ führt, mit der sich eine Person darüber bewusst ist, dass es an ihr ist, in der konkreten Situation und genau jetzt Stellung zu beziehen.

Selbst-Bewusstheit können wir aus dieser Perspektive verstehen als ‚auf den Punkt der Gegenwart‘ zusammengebundener, kondensierter Prozess der Bewusstseinsentwicklung. Wer sich diesen Prozess bewusst gemacht hat und durch ihn seiner Werte bewusst ist, der hat Selbst-Erkenntnis aufgebaut und kann damit entlang seines individuellen, selbstentwickelten Wertesystems ’selbst-verantwortlich‘ entscheiden und handeln.

Schauen wir in einem nächsten Schritt dazu einmal genauer auf dieses besondere System.

Eigentlich ist Leben einfach – 2

So genetisch einzigartig der Bauplan, die ‚Software‘ jedes Menschen ist, so einzigartig ist auch das Reich seiner Werte. Bedenken wir dabei, dass wir im deutschen Sprachgebrauch derzeit gut 400 Begriffe finden, die wir in sinntheoretischer Anschauung als Wertebegriffe verstehen, dann ergeben sich daraus schier unendliche Kombinationen an Wertesystemen, die Menschen ausprägen können. Viele der individuellen Wertesysteme orientieren sich dabei an soziokulturellen Normen. Diese können durch die Ursprungsfamilie und-oder durch andere Systeme, in denen sich die Person bewegt und verhält, als ‚wertvoll‘ definiert worden sein – sich ihnen anzupassen oder sich ihnen entgegen zu positionieren, liegt in der Freiheit und Verantwortung jeder Person. Wer sein Verhalten an zu vielen Werten ausrichtet, die den Verhaltens- und damit Werteerwartungen des jeweiligen Systems zuwiderlaufen, wird extremer formulierte Feedbacks (zum Beispiel positiv: Held …, negativ: Nichtsnutz…) erhalten als die Menschen, die sich in einem Erwartungskorridor verhalten.

Nimmt die Komplexität eigener privater und beruflicher Aufgaben zu, entstehen mit ihnen eigene und fremde Verhaltenserwartungen, die – können sie anfangs vielleicht nur unzureichend erfüllt werden – zu Werteentwicklungsprozessen führen. Beispiel: Eine Person hat mehrere berufliche Stationen mit zunehmender Personalverantwortung hinter sich. Aus ihrer Begabung, sich mit anderen Menschen konstruktiv austauschen und sie gut unterstützen zu können, erwächst die Überlegung, mit einer Mediationsausbildung das bestehende Rollenrepertoire zu professionalisieren. Auf ihrem Lernprozess erkennt die Person den Stellenwert eines Mediatoren-Verhaltens im Kontext von Diskretion, Neutralität und Respekt. Sie erkennt, dass sie in früheren Rollen dem Wert Neutralität kaum gerecht werden musste, eher im Gegenteil wurde von ihr Positionierung und eigene Lösungsstärke erwartet. In ihren ersten Mediationsgesprächen fühlt es sich für die Person gut an, eine allparteiliche Vorgehensweise zu praktizieren, und mit der Zeit schätzt sie den Wert Neutralität für sich als sinnvolle Ergänzung ihres Wertesystems.

Wer sein Wertesystem aktiv entwickeln will, kann mit Blick auf das, was an zunehmender Komplexität in der nächsten Lebensphase zu erwarten ist, ein Szenario dafür erstellen, welchen neuen Werten wohl mehr Raum zur Entwicklung gegeben werden sollte. Hierbei können qualifizierte Gesprächspartner, die nicht nur im Kontext der Kompetenzentwicklung, sondern auch im Thema Werteentwicklung fundiert arbeiten, hilfreich unterstützen.

 

Eigentlich ist Leben einfach – 1

Woran erkennt man, dass ein Mensch lebt? Einfach gesagt daran, dass er sich verhält. Körperlich und/oder psychisch, in den meisten Situationen psychophysisch. Damit ist noch nicht gesagt, ob er gut lebt, gesund lebt, … Und auch ist damit nicht erkannt, warum er so lebt, wie er lebt. Und auch nicht, worum es ihm geht, wenn er lebt. Um Antworten auf diese Fragen zu finden, müssen wir dahin schauen, was der Urgrund individuellen Verhaltens ist. Es sind die Werte der Person.

Wir wissen, das Genom ist die komplette Erbinformation eines Lebewesens. Es besteht aus DNA und enthält alle Gene, die nötig sind, um den Organismus aufzubauen und seine Funktionen zu steuern. Epigenetische Marker können dabei beeinflussen, welche Gene ein- oder ausgeschaltet werden, ohne die DNA-Sequenz selbst zu ändern. Dabei docken kleine Moleküle an einen DNA-Strang an. Sie verhindern, dass eine benachbarte Gensequenz abgelesen und in ein Protein übersetzt wird. Der Genabschnitt bleibt stumm. Es gibt Hinweise darauf, dass bestimmte Umweltfaktoren, Stress oder Traumata solche epigenetischen Marker erzeugen können, die dann wie das Genom selbst an Nachkommen weitergegeben werden.

Insgesamt kann man das Genom wie einen Bauplan oder eine ‚Software‘ für den menschlichen Körper verstehen. Was jedoch die Person aus diesem Bauplan macht, liegt in ihrer Freiheit und Verantwortung. Ob ich also eine Stupsnase habe, liegt am Genom, ob ich andere an der Nase herumführe oder nicht, am Einsatz meiner Freiheit und Verantwortung.

Ein Beispiel: Eine legasthenische Störung (Legasthenie) ist eine spezifische, weitgehend genetisch bedingte Entwicklungsstörung des Lesen- und Schreiblernens, die durch tiefgreifende, dauerhafte Schwierigkeiten im Schrifttexterwerb gekennzeichnet ist. Eine diagnostizierte Störung ist zu ca. 70% vererbt. Mehr als zwanzig verschiedene Gene oder Genorte sind bekannt, die eine Rolle bei der Entstehung einer Legasthenie spielen. Allgemein kann man sagen: Vieles an einem genetischen Bauplan, wie zum Beispiel der beschriebenen Störung, kann die Person nicht direkt beeinflussen – hier braucht es zur Unterstützung der Person geeignete Hilfsmittel.

Eine Lese-Rechtschreib-Schwäche dagegen ist eine weitgehende erworbene, oft vorübergehende Schwierigkeit, die durch äußere Umstände wie schlechte Lernmethoden, familiäre Probleme oder physische Ursachen wie eine längere Krankheit verursacht wird und wieder behoben werden kann. Dass hierbei nun – nach der fachmännischen Aufklärung des Phänomens – die Freiheit und Verantwortung der betroffenen Person zum Einsatz kommen muss und maßgeblich den Erfolg des Entwicklungsprozesses bestimmt, liegt auf der Hand. Damit dies geschieht, hat die Person auf eine Frage ihres Lebens zu antworten, eine Frage, die in diesem Fall vielleicht lautet: „Willst Du mich, Dein Leben, ohne eigenständigen Zugang zu geschriebenen Geschichten, Dokumenten, Büchern und Nachrichten führen?“ Lautet die Antwort nein, weiß die Person offenbar, worum es ihr nun zu gehen hat. Dann hat sie einen guten Grund für ihre Stellungnahme. Lautet die Antwort ja, dann hat die Person offenbar bereits einen Grund, den sie in der Lage sein sollte, auszusprechen. 

Kurz: Alles, was ein Mensch durch seine Umwelt, durch Übung und Erfahrung lernt oder auch nicht lernt, wird nicht direkt durch die DNA [hier ein KI generiertes Bild] vorgegeben. Wenn es das Genom also weitgehend nicht ist, was einen Menschen in seine Entwicklung mittels Lernen und Selbstdenken führt, dann stellt sich die Frage, was es denn dann ist? Was löst der Mensch aus, wenn er seine genetische ‚Software‘ in Anwendung bringt?

Für die Antwort auf diese Frage können wir nun neben der Welt der Gene das Reich der Werte stellen. Werte werden durch Verhalten sichtbar. Was bereits ein Kind an Verhalten bei anderen Menschen wahrnimmt, sind letztlich sichtbar gewordene Werte dieser Personen. Wir können annehmen, dass die unmittelbaren Bezugspersonen des Kindes mit ihren Verhaltensweisen die ihnen zugrunde liegenden Werte auf das Kind projizieren – bewusst oder unbewusst. Inwieweit das Kind diese Projektionen dauerhaft internalisiert, liegt in der Freiheit und Verantwortung des Kindes. Dabei können wir annehmen, dass ein Kind, das Verhaltensweisen entwickelt, die den Wertmaßstäben der Bezugspersonen Rechnung tragen, Wertschätzung erfährt. Ein solches Kind ist dann ‚einer von uns‘, ‚aus meinem Holz geschnitzt‘, ‚wie der Vater so der Sohn‘ usw. – ein solches Kind zeigt eine Art Deckungsgleichheit der Werte an. Man könnte es auch so formulieren: die Bezugsperson hat ihren berechtigten Auftrag, das Kind zu sich zu ziehen, angenommen und wahrgenommen. ‚Er-Ziehung‘ hat funktioniert. Eines Tages wird sich der erwachsene Mensch dann womöglich darüber wundern, dass er Verhaltensweisen zeigt, die er irgendwie mit denen der Bezugsperson(en) als vergleichbar ansieht.

Was aber, wenn das eigene Kind ‚aus der Art schlägt‘, wenn es Verhaltensweisen zeigt, die sich mit den eigenen Vorstellungen nicht in Deckung bringen lassen? Gelingt es der Bezugsperson, dieses ‚Anders-werden‘ des Kindes anzuerkennen, dann kann auch dies als Ausdruck bestimmter Werte angesehen werden, die es ihr erlauben, ein solches ermöglichendes Verhalten zu zeigen. Mit Viktor Frankl kann argumentiert werden: Jeder Mensch hat Bedingungen (hier: jeder Bezugsperson werden durch ihr Kind Bedingungen aufgezeigt), doch jeder Mensch kann sich frei und verantwortlich so oder so zu diesen Bedingungen stellen (zum Beispiel so: abweisend, sanktionierend oder so: ermöglichend, unterstützend). Umgekehrt gilt dies auch für das Kind.

Findet durch Entwicklung zunehmender Reflexivität des Kindes, des Jugendlichen, ein Prozess des Selbstdenkens statt, dann vermag die junge Person sich gegen die projizierten Verhaltensmuster und die ihnen zugrundeliegenden Werte aufzulehnen oder sie als gut für die eigenen Entwicklung anzukennen, sie zu revidieren oder umzuformen. So entsteht sukzessive das eigene Wertesystem, in dem internalisierte und akzeptierte Werteprojektionen auf der einen Seite und durch Selbstdenken entwickelte, individuelle Werte auf der anderen Seite zusammenkommen. Der selbstdenkende Mensch setzt so – analog zum Bild der epigenetischen Marker – seine Wertemarker.

In einer Werteanalyse lässt sich herausarbeiten, welche Werte in einem individuellen Wertesystem sich als Werteprojektion und welche als Ergebnis eigener Werteentwicklungsprozesse angesehen werden können. Zuweilen formulieren Menschen dann im Rahmen einer solchen Analyse den Wunsch, für die vor ihnen liegende Lebensphase weiteren Werten mehr Bedeutung einzuräumen oder sich von (weiteren) Werteprojektionen zu lösen. Solche Prozesse sind möglich – an sich lebenslang. Eine Entscheidung dafür kann nie die Empfehlung von Dritten sein – denn jede Empfehlung basiert letztlich auf dem Wertesystem des Empfehlenden. Würde eine Person einer solchen Empfehlung folgen, dann liefe sie Gefahr, an einem wesentlichen Punkt das Leben eines anderen zu leben. In der Logotherapie oder im Sinncoaching stellen wir daher ’nur‘ die Mittel zur Verfügung, nicht aber das ‚Rezept‘ aus für diese Form der Entwicklung. Es ist zu beachten: Eine Werteentwicklung hat Folgen, zum Beispiel hinsichtlich eigener Erziehungsformen, dem Beibehalt angenommener Rollen und Beziehungen, der Veränderung von teilweise lange etablierten Verhaltensweisen und anderem mehr. Dies darf und kann nur in der Freiheit und Verantwortung dessen stehen, der sich auf seine persönliche Reise ins Reich der Werte aufmacht.

Geschafft. Das neue Buch ‚Sinncoaching‘ ist fertiggestellt.

Wie kann Coaching bei existenziellen Zukunftsfragen wirksam unterstützen? In einer Welt geprägt von multiplen Krisen, gesellschaftlichen Umbrüchen und wachsender Komplexität rückt die Frage nach Sinn verstärkt in den Fokus vieler Menschen. Dieses Praxishandbuch richtet sich an Coachs, die ihre Klientinnen und Klienten dabei unterstützen wollen, Orientierung zu finden, persönliche Werte zu klären und sinnerfüllte Lebensentscheidungen zu treffen.

Das Buch beleuchtet theoretische Grundlagen, existenzphilosophische Bezüge und methodische Zugänge des Sinncoachings – inspiriert durch das Menschenbild Viktor Frankls. Es zeigt, wie Sinnimpulse erkannt, reflektiert und in konkretes Handeln überführt werden können – auch dann, wenn emotionale Erschöpfung, Lebenszweifel oder Überforderung das Erleben dominieren.

Elf Kapitel verbinden Konzepte wie Zuversicht, Wertevielfalt, Trotzmacht und Träume mit ausführlich beschriebenen Coachingprozessen. Anhand realer Beispiele wird deutlich, wie Sinncoaching in unterschiedlichen Lebenskontexten wirkt.

Dieses Buch richtet sich an erfahrene Coaching-Professionals, die mit Tiefe und Haltung arbeiten möchten. Es erweitert das Methodenspektrum für existenziell ausgerichtete Coachings und unterstützt dabei, auch in unsicheren Zeiten tragfähige Antworten zu ermöglichen – wertebewusst, ressourcenorientiert und sinnerfüllt.

Sinn ist der eigentliche und tiefste Beweggrund eines Menschen, um zu handeln, schrieb Frankl 1946. Und nicht nur das. Bereits willentlich auf die Suche nach Sinn zu gehen, sich für den Sinn im Leben zu motivieren, offen zu werden oder zu bleiben für das, was in der Welt an Menschen und Aufgaben auf einen wartet – all das sind Aspekte auf der Reise hin zum Sinn. Coaching-Klienten bringen vieles davon mit. Eine innere Stimme sagt ihnen, dass es Zeit ist, eine Wendung vorzunehmen.

Manchmal leitet der Klient mit einer Sinnfrage das Coaching ein, explizit und drängend. Manchmal fragt er, ob es noch sinnvoll sei, dies oder das zu entscheiden oder zu unternehmen. Manchmal taucht die Frage nach Sinn erst auf, nachdem das anfänglich formulierte Anliegen während des Coachingprozesses durch hinzutretende Ereignisse nicht mehr relevant ist. Manchmal geben Klienten zu verstehen, dass sie sich schon lange mit dem Sinn im Leben beschäftigen. Und manchmal fragen sie, ob das, was sie aktuell fühlen, wohl so etwas wie eine Sinnkrise sein könnte. Hier setzt die Begleitung von Coaching an, alles mit dem Ziel, dem Klienten eine Stärkung seiner Sinnwahrnehmung zu ermöglichen und ihm dabei zu helfen, Unentscheidbares entscheiden zu können.

Einen guten Start ins Neue Jahr

Für dieses Jahr verabschiede ich mich von meinen Leserinnen und Lesern. Es gibt viel zu tun, denn ich übergebe die meisten meiner Coaching-Ausbildungsprogramme an meine Schweizer Kollegin, Nicole Schwarz. 

In 2025 wird meine Blog-Reihe aufgrund eines Buchprojektes erst wieder ab Spätsommer fortgesetzt.

2024 – neu: 17. Erste Idee für eine Integral-sinnzentrierte Existenzlehre – nicht nur für Führungskräfte

Die Baby-Boomer gehen in Rente. Und damit auch die Führungs-Boomer. Wer – wie ich – in den 60er Jahren geboren wurde, der hat je nach Qualifikation, beruflicher Ausrichtung und Talenterkennung gegen Mitte der 1980er erste Führungsaufgaben übernommen. Wer dann in der Führungsrolle blieb, der durfte sich mit allerlei Führungskonzepten und Erwartungen an die Aufgabenerfüllung auseinandersetzen. Die heutige Generation dürfte sich für diese damaligen Entwicklungen kaum mehr interessieren, aus systemischer Perspektive jedoch darf man sagen, dass ohne diese Schritte von einst das heutige Rollenbild von Führungskräften kaum gezeichnet werden könnte. Die Entwicklung der Märkte, der Technologien und die verschiedenen Krisen in der Welt und in den Branchen haben immer neue Führungsverständnisse geprägt und sukzessive zu einer atomistischen Collage von Rollenmustern geführt, von denen die letzten Hypes wohl die ‚Führungskraft als Coach‘ [als wäre die Rolle der Führungskraft nicht bereits für sich genommen anspruchsvoll] und die Agile Führungskraft waren/sind. Was aber bis heute stets gleich blieb, ist die Frage, welche Art der Führung hier und heute passend ist, um die Existenz der Unternehmung zu sichern. Mühelos lässt sich diese Frage auch ummünzen in: Welche Art der Führung ist hier und heute passend, um die Existenz der Gesellschaft, der katholischen Kirche, unseres Schützenvereins, unserer Partnerschaft, unserer Familie, des eigenen Lebens zu sichern? Existenzsicherung hat also eine unmittelbare Zukunftsorientierung und die braucht Führung.

Führung beantwortet eine Frage: Wohin?
Wird diese Frage so beantwortet, dass sich Menschen in einer Unternehmung selbst motivieren können, die ‚vorgeführte‘ Richtung mit einzuschlagen, dann hat Führung ihren Zweck erfüllt.

Wer ein Wohin hat, der erträgt fast jedes Was.
Was ist hier und heute zu tun, um das Ziel zu erreichen? Was muss bereitgestellt werden, um Hindernisse zum Ziel aus dem Weg zu schaffen? Was muss ich bereit sein selbst einzubringen, damit die Richtung trotz vielleicht erforderlicher Umwege stimmt? Was kann passieren, um das Ziel zu verfehlen? …

Der Pferdefuß des Wohin zeigt sich dann, wenn ihm etwas Wesentliches nicht vorausgeht – ein Wofür? Wird die Frage nach dem Wofür so beantwortet, dass sich Menschen in einer Unternehmung inspirieren [be-geist-ern] können, einem Impuls zu folgen, der weit mehr ist als bloße Zielgerichtetheit, dann fühlen sie, dass sie ‚über-ihrer-selbst-willen‘ hinaus ihren persönlichen Beitrag einbringen können.

Wofür stehen wir ein und wofür wollen wir uns einsetzen? Wofür ist es gut, dies und nicht jenes zu tun? Wofür braucht die Welt uns? Wofür sollte sich eines Tages jemand an uns erinnern? …

Fehlt dieses Wofür, fehlt Entscheidendes: es fehlt Sinn. Und was machen Menschen, wenn er ihnen fehlt? Sie versuchen, ihn sich selbst zu machen – mit Zielen, mit einem ‚Wohin‘. Und genau das führt in die Irre, denn aus wahrgenommenem Sinn ergeben sich letztlich sinnvolle Ziele. Aber ein Ziel ist längst nicht hinreichend für ein Gefühl, etwas Sinnerfüllendes zu tun.

Um nun ein solches ‚Wofür‘ zu entdecken, braucht es eine etwas geübte Wahrnehmungsweise. Die Übung besteht darin, sich nicht zu fragen: Was nehme ich wahr? [zum Beispiel ein Problem, eine Marktnische, einen Mitarbeiter…]. Vielmehr gilt es, zu fragen: Wie nehme ich wahr, wie nehmen wir wahr, zu was mich/uns die Welt ‚über-meiner/unserer-selbst-willen‘ und zur Sicherung der Existenz der wahrgenommenen Welt aufruft? Mit welcher Bewusstheit schaue ich/schauen wir auf das, worum es geht und ist dies das einzige mögliche Schema, mit dem ich/wir auf das schaue/n, was der Fall ist?

Die Einübung einer solchen Wahrnehmungsweise mag vielleicht einfach erscheinen – sie ist es nicht. Sie bedarf – so gut und gewissenhaft es geht – zuerst der Auflösung blinder Flecke, der Defokussierung und des Abschaltens des Tunnelblicks, im Kern also zuerst dem Unterlassen sofortigen Bewertens bis hin zu einem zynischen Infragestellens im Sinne eines ‚das geht sowieso nicht‘, ‚das kann nur so und nicht anders sein‘, ‚was will die oder der mir schon sagen können‘?. Psychologisch betrachtet verspricht diese Form der Wahrnehmung nach der anfänglichen Anstrengung des Einübens mehr Gelassenheit, mehr Weitblick, mehr Möglichkeit – soviel sei schon verraten, sollte sich der ein oder andere Leser gerade fragen, wozu er sich eine solche Entwicklungsreise antun soll.

Wofür also ist diese andere Wahrnehmungsweise gut? Sie ermöglicht einen größeren Raum der Sicherung der Existenz (des Unternehmens, des Vereins, der Familie, der Gesellschaft, der eigenen Person).

Wer sie als Führungskraft praktiziert, der braucht keine Etiketten für seine Rolle mehr. Dann haben visionäre Führung, spirituelle Führung, systemische Führung, transformationale Führung oder anderes xy-Führungs-Gedöns ausgedient. Die vielen Bücher über Führungslehre: Danke, dass ihr gewesen!

Nicht aber die Bücher über Existenz und geistiger Weltwahrnehmung, wie sie durch Viktor Frankl und Ken Wilber verfasst wurden und als Basisliteratur der Sinn- und Bewusstheitstheorien gelten. Bringt man beide Theorien zusammen, so entsteht ein integral-sinnzentriertes Gedankengut, das auch im Kontext der Führung zu spannenden Erkenntnissen und Handlungsweisen führt.

Ich fasse für neue Leserinnen und Leser einige Aspekte über Existenz und Bewusstheit kurz zusammen [viele weitere Details dazu finden sich bereits reichlich in früheren Beiträgen in diesem Blog]:

  • Frankl argumentiert, dass die Existenz des Einzelnen von entscheidender Bedeutung ist: Der Mensch ist entscheidendes Wesen. Und was er entscheidet ist, wer er im nächsten Moment sein will. Was er aber in jedem Falle ist: Das einzige Wesen ist, das stets nach Sinn in seinem Leben sucht.
  • Sinnsuche ist die grundlegende menschliche Motivation, selbst unter extremsten Bedingungen. Die Fähigkeit des Menschen zur freien Wahl und zur Suche nach Sinn in seiner Existenz können nicht ausgelöscht werden.
  • Sinn ist das ungewollt Gesollte, das nicht würde, ginge vom Einzelnen keine Handlung aus, es zu verwirklichen.
  • Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt die individuelle Macht – das Gewissen – zur Wahl der Reaktion, und jede derart gewählte Reaktion ist Ausdruck der  individuellen Entwicklung und Freiheit des Menschen.
  • Die Existenz eines Menschen ist nicht auf dessen physisches und psychisches Dasein beschränkt, sondern umfasst vielmehr eine dritte, geistige Dimension. Diese erst ermöglicht einen dynamischen Prozess der Sinnfindung und Sinnverwirklichung [was ‚geistig‘ in diesem Kontext meint, wurde in früheren Beiträgen in der KrisenPraxis bereits ausführlich beschrieben].
  • Der Prozess der Sinnfindung ist eine Arbeit an dem in der Gegenwart zu Entdeckende und für die Zukunft zu Erhoffende.
  • Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Hoffnung in die Welt trägt. Er stellt sich dem Brüchigen mit Mitgefühl und Tatkraft. Das Phänomen Hoffnung scheint ein Existenzial in der Natur des Menschen zu sein.
  • Menschen verarmen seelisch und geistig nicht durch das, was sie nicht bekommen, sondern durch das, was sie auszusenden verabsäumen. Es gibt ein Wechselverhältnis zwischen Wohlwollen und Wohlergehen.
  • Gerade die Unvollkommenheit der Welt ist das stärkste Argument gegen den Nihilismus und gegen die Absage an die Suche nach Sinn. Unvollkommenheit und Heilbedürftigkeit sind zentrale Hinweise auf menschliches Gebrauchtsein.
  • Jede Tatsache ist unvollendet. Sie wartet auf einen menschlichen Beitrag. Es ist Unfug anzunehmen, dass man nur geben kann, was man zuvor empfangen hat. Jeder Mensch kann die Welt jederzeit um Gutes bereichern. Auch dann, wenn er selbst noch nicht hat, was er psychisch oder physisch braucht.

Unter Bewusstheit verstehen wir die psychische Disposition, die das unmittelbare Wahrnehmen dessen beschreibt, was einen Menschen in eigener Achtsamkeit im Hier und Jetzt bewegt und ihm aktuell gewahr wird, seien es Körperempfindungen, Sinneseindrücke, Gefühle, Fantasien, Denkmuster und Impulse. Bewusstheit ist somit Aufmerksamkeit auf Gegenwärtiges.

Jede Bewusstheit und damit auch jede Aufmerksamkeit auf Gegenwärtiges ist eine von vielen möglichen Ausprägungen von Bewusstheit. Sie ist stets ein Teil eines Bewusstheitsraums. Wir nennen diesen Teil eines Bewusstheitsraums auch ‚Schema‘, mit dem ein Mensch auf ein Thema schaut – auf das, was aus seiner Sicht die Lage ist.

  • Ein Teil eines Bewusstheitsraums können wir kurz ‚Holon‘ nennen (von griech. hólos und on „ganzes Seiendes“). Dieser Begriff bedeutet ein Ganzes, das Teil eines anderen Ganzen ist. So ist eine Zelle ein Teil eines Organs, das ein Teil eines Körpers ist. Ein Mensch ist Teil einer Familie, diese ein Teil einer Sippe, diese ein Teil eines Volkes. Ein Gedanke ist Teil einer Sequenz von Gedanken, diese ein Teil eines Gedankenaustauschs, dieser ein Teil eines Kollektivs an Gedanken ….
  • Ein Schema eines Menschen im Sinne einer gegenwärtigen Bewusstheit ist Teil all seiner bisher entwickelten Bewusstheiten. Diese wiederum sind Teil aller bislang möglichen Bewusstheiten und diese wiederum Teil aller Bewusstheiten die in ferner Zukunft als Schemata der Aufmerksamkeit auf Gegenwärtiges zur Verfügung stehen werden.
  • Jede Bewusstheit ist für sich betrachtet als ganzes Teil ganz bewusst und zudem ist es nur teilweise bewusst, weil das nächst höhere Ganze ‚ganzer‘ ist.
  • Ein holares System kann als Modell von Schichten verstanden werden, bei der jede einzelne Schicht nur sich selbst reflektieren kann, zudem es aber vermag, untergeordnete Schichten zu integrieren.
  • Jedes Holon ist stets bestrebt autonom zu bleiben. Das gelingt solange, bis das bestehende Schema unattraktiv wird. Bis dies jedoch geschieht, werden Differenzierungsprozesse vollzogen, die zwar Entwicklung anzeigen, jedoch das Schema im Kern bewahren. Erst wenn die Unterschiede zwischen Bestehendem und Unbekanntem als attraktive alternative Möglichkeit bewusst wird, kann sich das Holon auf die nächsthöhere Ebene transzendieren.
  • Die höhere Ebene ist von größerer Komplexität und integriert ihrerseits nun alle vorangegangenen.
  • Alle Ebenen der Bewusstheit stehen als Potential einem Menschen zur Verfügung. Wenn dieses Potenzial nicht ausgeschöpft wird [im Sinne Frankls: wenn der Raum der Freiheit zwischen Reiz und Reaktion nicht genutzt wird, um eine sinnorientierteres Schema im Umgang mit einem Thema einzusetzen], so mag dies beeinflusst sein durch zum Beispiel:
    => Gewohnheitshandeln
    => Lageorientierung und Phlegma
    => Angst vor den Folgen einer persönlichen Entwicklung
    => Ein Veränderungsresistenz unterstützendes Wertesystem
    => Ein fehlender Kommunikationsraum zu Menschen, die die Entwicklung bereits vollzogen haben
    => Unterentwickeltes Erfühlen von Attraktoren
    => Hoher Anteil an Fremdsteuerung durch Glaubenssätze oder durch das konkrete menschliche Umfeld ….

Bezogen auf die Führung führt uns eine integral-sinnzentrierte Perspektive zu diesem Gedanken: Da Menschen sich nur selbst dazu motivieren können, ihren bewussten Umgang mit Gegenwartsthemen neu zu gestalten, bleibt für Führungskräfte pragmatisch gesehen einzig die Aufgabe, den Möglichkeitsraum für selbstgesteuerte Bewusstheitsentwicklung den Mitarbeitenden offen zu halten. Dazu können erbauende Gespräche einen ersten guten Beitrag leisten. Für noch mehr Tiefgang kann sich aber auch anbieten, dass Führungskräfte aktiv denen, die die Führungskräfte- und Personalentwicklung in ihren Unternehmen steuern, den Auftrag geben, entsprechende Weiterbildungen, Foren, Vortragsimpulse usw. einzuplanen. Das ist inhaltlich kein Hexenwerk, fördert die Diskursfähigkeit in der Belegschaft und macht dem Einzelnen verständlicher, wie man Informationen verschiedenperspektivisch deuten, wie man Trampelpfade der Entscheidungsfindung verlassen, wie man sein bisher gelebtes Leben besser verstehen und das noch vor einem liegende werteorientierter gestalten kann.

Wenn meine Behauptungen zutreffen, dass es heute keinerlei Mangel an analogen und digitalen Angeboten gibt, die den Kontext Sinnfindung und Bewusstheitsentwicklung adressieren und dass es ferner ein Sinnbedürfnis gibt, das das Leben jedes Menschen flankiert [Studienbeiträge dazu u.a. aus 1963 2006 2016], dann stellt sich die Frage, worin die Gründe dafür liegen könnten, dass diesem Themenspektrum ein vergleichsweise geringes Interesse in Unternehmen beigemessen wird.

Meine Reflexionen dazu:

  • Qualifikationen in diesen Themenfeldern können als problematisch angesehen werden, weil sich durch umfassendere individuelle Bewusstwerdungsprozesse existenzielle Fragestellungen ergeben können, auf die Unternehmen ihrerseits dann keine Antworten zu geben in der Lage sind. Mancherorts mag es daher immer noch das Mindset geben, Menschen lieber ‚klein und dumm‘ zu halten, damit sie als Erfüllungsgehilfen für Unternehmenszwecke einfach ihrer Arbeit nachgehen. Hier besteht die Angst der Entscheider, die ‚Geister, die man förderte, nicht mehr los zu werden‘. Ich plädiere hier seit langem für eine ‚Souveränisierung‘ des Themas Bewusstheitsqualifizierung zur Stärkung der Unternehmenszukunftsentwicklung, treffe aber allzu oft noch auf eine einseitige Fokussierung auf Anpassungsqualifizierungsmaßnahmen und auf – fraglos auch wichtige – rein leistungszweckorientierte Formate.
  • Stapelkrisen mit ihren gravierenden Störungen des Motivations-Flows führen immer häufiger zum individuellen Gefühl bei Führungskräften und Mitarbeitenden, den Sinn [meaning] und den Zweck [purpose] der eigenen Arbeit nicht mehr so recht erkennen zu können [Studien dazu: 2010  2016 2020]. Spätestens jetzt wird der Unfug deutlich, der vor Jahren initiiert wurde, als man Führungskräften den Auftrag gab, als Sinnstifter für die Mitarbeiter ihres Bereichs zu fungieren [Beispiel dazu, mit dem Inbegriff des Unfugs: „Der Unternehmer Steve Jobs scheint bei Apple in der Tat ein Gott, ein richtiger Sinnstifter zu sein“]. Auch wenn ich mich wiederhole: Selbst Führungskräfte können Sinn nicht machen, stiften oder produzieren. Was sie können ist, Zwecke zu definieren. Es kann zweckdienlich sein, Kosten zu senken, ein Produkt zu entwickeln, einen Mitarbeiter einzustellen, sich von einem Lieferanten zu trennen, die Organisation zu verschlanken … Mit solchen Zwecken haben Führungskräfte bereits reichlich zu tun, wollen sie entlang der täglichen Unsicherheiten, Unberechenbarkeiten und disruptiven Veränderungen die Leistungsfähigkeit ihrer Teams und Mitarbeiter mit ihrem Führungsverhalten unterstützen. Die Aufgabe eines Menschen, Sinn im eigenen [Berufs-]Leben zu finden, hat jedoch nichts mit der Rolle einer Führungskraft zu tun – im Gegenteil: vor diese Aufgabe sind sie selbst ebenso gestellt wie jeder andere Mensch auch. Und ob ihre Führungsrolle für ihren eigenen Findeprozess dienlich ist, darf zumindest angezweifelt werden, schaut man auf die Zahlen an psychischen Erkrankungen, die diese Personengruppe betreffen – und die ich als Therapeut auch zu meinem Kreis der Klienten zähle.
  • Dem Zeitgeist entsprechend findet sich in der Führungsforschung heute ein starkes Interesse daran zu erfahren, wer sich eigentlich als Person hinter der Rolle befindet, die sich Führungskraft nennt. Statusgemäß finden sich solche Ausführungen in Biografien, die Topmanager und Firmengründer im Rückblick auf ihr Tun und Schaffen verfassen [z.B. Alfred Sloan 1964 – General Motors; Jack Welsh 2001 – General Electric; Götz Werner 2015 – dm …]. Blickt man aber auf das weite Feld der Führungskräfte in Deutschland, so sprechen wir über gut eine Million Frauen und Männer, denen direkt oder indirekt zugeschrieben wird, authentische Vorbilder [2021] für ihre Mitarbeiter sein zu sollen. Mit einer solchen Zuschreibung habe ich, in der Tat, ein Problem – und das nicht ohne Blick auf meine eigene Zeit in Führungsrollen. Schaut man auf Studien zum Thema ‚persönliche Erfahrungen und Eigenschaften von Führungskräften‘, so liest man davon, dass Führungskräfte, die Schlüsselaspekte ihrer inneren Erfahrungen in ihrem Führungsverhalten zum Ausdruck bringen, es schaffen, einen positiven Einfluss zu nehmen auf die Befriedigung des Bedürfnisses ihrer Mitarbeiter nach einem stabilen Selbstkonzept [Studien: 1991 1993 1998]. Ich will nicht verhehlen, dass die sozialkognitive Lerntheorie von Bandura mit ihrem Hinweis darauf, dass Menschen das ‚Lernen am Modell‘ für ihre eigene Entwicklung nutzen, ihren Stellenwert auch heute noch in der Psychologie verdient. Und ich will auch nicht in Frage stellen, dass es gut tun kann, wenn eine Führungskraft in der Lage ist, ein idealisiertes zukunftsorientiertes Bild ihres Verantwortungsbereiches zu zeichnen. Manchen Mitarbeitenden kann so geholfen werden, zu erkennen, dass die eigene Arbeit Teil eines ‚größeren Ganzen‘ ist [vgl. o.g. Hinweise zum ‚Holon‘]. Und schon gar nicht will ich bezweifeln, dass es ein noch besseres Gefühl eines stabilen Selbstkonzepts erzeugen hilft, wenn ein Mitarbeiter dieses positive Modell-Lernen aufgrund einer länger andauernden Zusammenarbeit mit einer Führungskraft immer wieder realisieren kann. Das, was ich zu bedenken geben will ist, dass es zuerst eines externen, objektiven Kontextes bedarf, wir können ihn Sinn-Impuls nennen oder – weniger aufgeladen – schlicht einen ‚Gegenstand‘, auf den sich ein arbeitender Mensch in Liebe und/oder Hingabe ausrichtet. Fehlt ein solcher Gegenstand, findet die Person keinen Sinn. Fehlt zum Beispiel einer im Pharmabereich arbeitenden Person der Impuls, einen Beitrag zur Gesunderhaltung der Gesellschaft [Gegenstand] mithilfe seiner aufgebauten Kompetenzen leisten zu sollen, dann schafft es auch keine Führungskraft mit dem Hinweis darauf, dass das Unternehmen Produkte entwickelt hat, die es wert wären, verkauft zu werden, damit einer bestimmten Krankheit entgegengewirkt werden kann. Was in einem solchen Beispiel von einer Führungskraft geleistet werden kann ist nicht mehr und nicht weniger, den Weg nicht zu versperren, damit Mitarbeitende ihre Möglichkeit selbstmotiviert ausschöpfen können, den in der Welt ohne jedes menschliche Zutun gegebenen Sinn zu entdecken und bei dieser Entdeckung zu erfühlen, wie eigene Werte dazu beitragen, dass das Gesollte zum persönlich Gewollten wird.
  • Immer ist es ein ‚Gegenstand‘, der prägt und legitimiert, was vom Einzelnen selbst als sinnvoll angesehen wird. Alle Sinn-Wahrnehmung geht daher notwendigerweise vom ‚Selbst‘ der Person aus, von seinem Selbstwert, seinem Selbstvertrauen, seiner Selbstsicherheit usw. Was von einer Person als Gegenstand mit Sinngehalt wahrgenommen, dann gedeutet und kognitiv verarbeitet wird, kann eine andere Person mit sich selbst eingedenk eines anderen Wertesystems womöglich als völlig unvereinbar ansehen. Wenn es also so etwas wie einen Sinnstifter geben soll, dann findet er sich nie in der Person einer Führungskraft, sondern stets in der Welt in Form eines objektiven Kontextes, der auch nie verschwinden würde selbst dann nicht, gäbe es keinerlei Menschen in der Rolle einer Führungskraft. Andersherum kann es für einen Mitarbeiter anregend sein zu hören oder es mittels konkreter Handlungen zu erleben, wofür sich eine Führungskraft aufgrund welchen Wertekanons für den von ihr wahrgenommenen Sinn einsetzt. Jedes Gespräch darüber kann ich nur begrüßen, würde es in Unternehmen – und nicht nur dort – geführt, dennoch lohnt es sich zu bescheiden, würde man diese Gespräche mit der Absicht anbieten wollen, den oder die anderen auf irgendeinen Pfad fremdmotivierter Tugend zu führen.

Statt einer zum Scheitern verurteilten Selbstüberforderung, einem sinnstiftenden Rollenverständnis nachzueifern, mag Führungskräften eine integralere Sicht auf die Prozesse der Sinnwahrnehmung helfen. Wenn die Leserinnen und Leser der KrisenPraxis im Archiv zurückschauen auf die Beiträge, in denen ich die Werte-Meme-Ebenen [Stichworte: Ken Wilber, Clare Graves, Spiral Dynamics] vorgestellt habe, dann will ich diesen nun an dieser Stelle einige Thesen folgen lassen:

  • Wenn ein Mensch einer beruflichen Tätigkeit nachgeht, dann wird er bestrebt sein, das/die bei ihm am stärksten entwickelte/n Werte-Meme-Ebene zu aktivieren. Ein Sinn-Impuls, in dessen Kern beispielsweise das Thema ‚tue etwas für die Verbesserung bislang als willkürlich empfundene, intransparente Zahlungsaufforderungen von Energieversorgern‘ steckt, wird eher von einer Person aufgegriffen werden, die sich in ihrem Verhaltens- und Handlungsschema an einem stark entwickelten Rot-Blau-Meme-Wertesystem orientiert. Erfährt eine solche Person aus ihrem Umfeld für ihre Widerstands-Initiative Anerkennung, dann können wir dies ‚Wertschätzung‘ nennen. Das Meme-Set wurde durch das Thema angeregt und mittels Verhaltensschema verwirklicht. Anders ausgedrückt: Der Sinnimpuls erreichte eine Person, die aktiv die Bedeutung ihres Verhaltens komponierte, indem sie hinsichtlich dessen, was sie als Thema bemerkte, konkret handelte und durch die empfangene Wertschätzung eine Stärkung ihrer Selbsterkenntnis und eine Rechtfertigung für künftiges Handeln bei ähnlich gelagerten Themen erfährt.
  • Nehmen wir dieses Beispiel und vergrößern wir den Rahmen auf die Millionen Themen, die täglich verfügbar sind, um sich individuell für die Existenz von Allem in irgendeiner Weise einzubringen, dann wird klar, dass jedes dieser Themen ein spezifisches Werte-Meme adressiert. Für jedes Meme – davon dürfen wir ausgehen – findet sich ein Set an Themen mit Sinngehalt, keine Werte-Meme-Ebene kann daher eine stärkere Sinnorientierung für sich behaupten als eine andere. Vielmehr könnte man sagen: Es braucht stets die Person/en mit passendem Werte-Meme zur passenden Zeit am passenden Ort, damit ein in der Welt vorhandenes Thema zu seiner Verwirklichung geführt wird.

‚Ich fühle mich aufgerufen und angesprochen‘ – ‚ich habe verstanden, worum es geht‘ – ‚ich habe überlegt, ob ich es kann‘ – ‚ich habe gefühlt, ob ich es will‘ – ‚ich kann mitteilen, warum ich es tue‘. In dieser Reihenfolge lässt sich der Prozess beschreiben von der Sinnwahrnehmung, über die kognitive Deutung des Wahrgenommenen, hin zu einer kognitiven Wertung der bewussten Ressourcen, einer emotionalen Einbettung dieser Wertung in die eigene Biografie und letztlich hin zu einer selbstmotivierten Handlung.

Denkt man diesen Prozess weiter, so kann man nachvollziehen, dass es alles andere als voraussetzungslos ist, soll ein objektiver Sinn zu einer subjektiven Handlung werden. Und wird er zu einer Handlung, dann ist diese ihrerseits von der individuell-biografischen Werteentwicklung abhängig. Diese Werteentwicklung wiederum ist der Prozess, der dazu beiträgt, dass eine Person im Hier und Jetzt ein Schema aktiviert, mit dem sie mit einem auf sie zukommenden Thema umgeht. Ergo können wir konstatieren, dass ein objektiver Sinn je nach Werte-Meme einer Person, die diesen Sinn wahrnimmt, in unterschiedlicher Weise in eine subjektiv selbstmotivierte Handlung transformiert wird. Und hieraus folgt wiederum, dass ein Sinn objektiv bleibt, selbst dann, wenn die Transformation in eine subjektive Handlung in eigener oder fremder Anschauung misslingt.

  • Eine Führungskraft, die sich in der Bestimmung sieht, Menschen zu führen und die einen solchen Sinnimpuls in ihrem beruflichen Umfeld empfängt, kann dies also völlig anders in Führungshandeln transformieren als eine andere Person, die sich entlang ihrer Werte ebenfalls aufgerufen fühlt, eine solche Rolle einzunehmen [eine Person mit ausgeprägtem rot-blauen Werte-Meme-System geht mit dem Thema ‚Führung‘ anders um als jemand mit zum Beispiel einem stark grün-gelben System]. Inwieweit das jeweilige Führungshandeln als gedeihend bewertet werden kann, wird abhängen von der Passung der Werte dieser Führungskraft und denen der Mitarbeitenden. Meine Empfehlung an Führungskräfte lautet daher stets, im Kontakt mit Mitarbeitenden immer wieder darüber zu sprechen, wofür man sich aufgerufen fühlt und worum es einem deshalb in der Führungsrolle geht.
  • Hat man Sinnwahrnehmung und Werteverständnis mit Mitarbeitenden zu einem hinreichenden Einklang führen können, so stehen Zielvereinbarungen und Zielerfüllungsgrade auf dieser Basis unter deutlich besseren Vorzeichen als wenn Führungskräfte sich lediglich über ihre Selbstmotivation an ihre Mitarbeitenden wenden. In diesem Fall drücken sie sich in ihrer täglichen Kommunikation durch den Einsatz bewusster Rhetorik aus, in der Hoffnung, dass die Mitarbeitenden dadurch erkennen mögen, was der Führungskraft für eine erfolgreiche Zusammenarbeit von Bedeutung ist [1993]. In der Selbstkonzeptforschung geistert in diesem Kontext seit langem die Vorstellung herum, dass Führungskräfte mittels Einsatz von Visions-Kommunikation ihr individuelles Selbst mit denen ihrer Mitarbeitenden verbinden und diese Verbindung für die Mitarbeiter quasi zum Inbegriff der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit wird [zahlreiche Verweise dazu – insbesondere aus dem US-amerikanischen Wissenschaftsbereich – finden sich hier aus dem Jahr 2022]. Es mag wohl Protagonisten in der Gestalt der Chefs von Tesla, Amazon, Apple oder Facebook geben, die derart euphorisierend auf Teile ihrer Belegschaft wirken, so dass ihr bloßes Erscheinen bereits eine Art Trance induziert und Menschen glauben lässt, hier seien die leibgewordenen Sinnstifter unterwegs. Es mag zudem Menschen geben, die sich in ihrem Berufsleben dem dysfunktionalen Anteil des ziel- und leistungsorientierten Orange-Meme [siehe dazu die zahlreichen Erklärungen in früheren Beiträgen hier in der KrisenPraxis] freiwillig verschreiben [diesen Anteil können wir mit den Stichworten Selbstoptimierungswahn, Unterordnung unter die Suggestionen von Influencern oder auch turbokapitalistische Lebensführung umreißen]. Am Ende der psychophysischen Möglichkeiten angekommen, finden sich diese Menschen dann häufig wieder im Erleben einer Erschöpfungsdepression, in Verlust- oder Versagensängsten, in einem mächtigen Gefühl der Sinnleere.
  • Einen in der Welt jederzeit für jeden Menschen gegebenen objektiven Sinn als Ausgangspunkt der Ausformung eines gelingenden individuellen [Berufs-]Lebens heranzuziehen, steht in meiner Anschauung stets über dem, was die Theorie der Selbstkonzepte nahelegt: Dass sich Führungskräfte im Speziellen als auch Menschen im Allgemeinen lediglich im Einklang mit ihren inneren Überzeugungen, Werten und Identitäten verhalten, um ihre intrinsischen Bedürfnisse nach Selbstdarstellung und Selbstkonsistenz zu erfüllen. Dies zu tun, vermag zwar für die meisten Menschen bereits verlockend genug zu sein und es ist leicht nachzuempfinden, dass allzu viele Menschen danach streben, betrachtet man die bloße Menge derer, die unter schwierigsten Bedingungen tagtäglich versuchen müssen, einfach über die Runden zu kommen. Trotzdem folge ich mit meinen Überlegungen Viktor Frankl, wenn er klarlegt, dass jeder Mensch jederzeit unter dem Einfluss von Bedingungen steht, dabei jedoch stets frei ist, sich so oder so zu diesen Bedingungen zu stellen.
    Sich nicht abzugeben in die Selbstkonzepte anderer, damit das eigene [Berufs-]Leben zu leben und nicht das Leben anderer; sich der eigenen Werte-Meme bewusst zu werden; eine Wahrnehmung zu erlernen, mit der Sinnimpulse die Chance erhalten in den Vordergrund zu rücken  – dies sind die wesentlichen Aspekte einer integral-sinnzentrierten Existenzlehre. Ein Führungshandeln, das auf einer solchen Lehre aufbaut, darf sich nicht auffressen lassen von den Bedingungen, unter denen Führungskräfte nun einmal qua Rolle täglich stehen und die anstrengend genug sind, so dass den Menschen Respekt gebührt, die bereit sind, diese Rolle einzunehmen. Im Gegenteil: Ein Führungshandeln, das erkennen lässt, dass die Führungskraft begonnen hat, einen Perspektivenwechsel hin zum Sinn zu vollziehen, zeigt sich in einer Klarheit und Klugheit in der eigenen Lebensführung, die der nicht mehr missen mag, der diese Schritte gegangen ist.

Zum Schluss eine Anmerkung zur einer Studie, in der ein Hohelied auf die ‚Visionäre Führung‘ gesungen wird und in deren Resümee auf ein ‚faszinierendes empirisches Ergebnis‘ hingewiesen wird. Das Ergebnis fokussiert ältere Forschungen, die postulierten, dass die Wirkung visionärer Führung auf das Empfinden von Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit bei Mitarbeitenden mit der Zeit abnehmen. Nun wurde diese Hypothese konkretisiert: „Basierend auf der Vorstellung, dass das arbeitsbezogene Selbstkonzept dynamisch ist und sich zumindest teilweise durch die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter entwickelt, bieten wir einen spezifischen theoretischen Blickwinkel für diese zeitlichen Effekte. Unsere Ergebnisse zeigen, dass ein „Ablaufdatum“ des Führungseinflusses für die visionäre Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter nach etwa sechs Jahren dyadischer Zusammenarbeit zwischen Führungskraft und Mitarbeiter zu erwarten ist.“  [Original: Based on the notion that the work-related self-concept is dynamic and, at least in part, evolves through the leader–follower relationship, we provide a specific theoretical angle for these temporal effects. Our results show that an “expiration date” of leadership influence for the visionary leadership–follower meaningfulness relationship may be expected after about 6 years of leader–follower dyadic tenure.]

Okay: Bei – angenommen – 40 Berufsjahren braucht es bei sechs Jahren Wirkkraft visionärer Führung also gut sieben Führungskräfte, die einem Mitarbeiter nach und nach ein beständiges Empfinden von Sinn in der Arbeit vermitteln. Da sag ich doch mal: ‚Heureka‘!

2024 – neu: 16. Erste Idee für eine Integrale Logotherapie

Da wird man nichtsahnend in die Welt geworfen und wird mit dem ersten Luftschnapper auf Konfrontation geeicht. Von einem Jemand oder einem Etwas. Der Raum der Erwartungen, in den man da hineinkonfrontiert wird, ist vollgestopft mit Vorstellungen, Idee, Wünschen, Hoffnungen und Motiven anderer. Man wird erzogen, belehrt, sozialisiert, ausgerichtet, indoktriniert, unterrichtet, instrumentalisiert, geprägt, … – meist mit guten Absichten, in liebevollen Beziehungen, Strukturen und gar nicht mal so selten mit dem Gedanken der Eltern, mit eigenen Kindern der Welt etwas zurückgeben zu können, was man selbst einst empfangen hat: mit Leben. Ausgleich, Bindung, Ordnung: diese drei Prinzipien dürfen in keinem System verletzt werden, ansonsten drohen Stress, Konflikt oder Krieg. Systemiker haben aus diesen Überlegungen heraus zentrale ‚Systemgesetze‚ abgeleitet [einfach mal nach diesem Begriff die Suchmaschine anwerfen]. Wird das Selbstsystem, das Familiensystem, das Arbeitssystem, …, das Gesellschaftssystem, … nicht entlang dieser  Gesetze gestaltet und gesteuert, dann gibt’s über kurz oder lang Probleme, Störungen, Krankes und Verletzendes.

Wer sich durch Geburt in sein Leben hineinwirft, hat es demnach bereits mit bestehenden Prinzipien zu tun, die diesem Leben einen ‚gesetzten‘ Rahmen verleihen. In den ersten Jahren hat das Kind mit den elterlichen Interpretationen dieser Prinzipien zu tun, in der Pubertät wird an diesen dann mehr oder weniger gerüttelt und später dann ‚erwächst‘ die Freiheit und die Verantwortung dafür, erlebte Verletzungen der Prinzipien durch Eltern, Mitschüler, Lehrer, Geistliche … zur Heilung zu bringen. Systemisch arbeitende Therapeuten können dabei helfen, manchmal reicht aber bereits eine angeborene oder entwickelte Resilienz, um hinter sich lassen zu können, was nach hinten gehört.

Eine andere ‚Alternative‘ bieten zuweilen Sekten, gewisse Parteien oder manipulative Menschenfänger an, die suggerieren, sie könnten quasi die Arbeit für die real oder vermeintlich von Systemverletzungen betroffene Person erledigen. Dafür müsse die Person sich einfach bei ihnen abgeben, sie wählen oder sie auf ihrer schiefen Bahn begleiten. Dass sich Menschen davon beeindrucken und beeinflussen lassen, war schon immer so und wird – sollten nicht mehrere Wunder geschehen –  leider wohl auch immer so bleiben. Damit nun diese ‚Alternativen‘ mit ihren toxischen Energien in Grenzen gehalten werden, müssen sich die Systemgesetze als robust erweisen, ohne dabei die Freiheit und Verantwortung des Einzelnen zu erwürgen. Ein solcher Prozess ist immer eine Gratwanderung, ihn aufzugeben oder auf dem Grat falsch abzubiegen jedoch führt geradewegs ins dystopische Verderben.

Auf Wunder warten? Auf dem Grat womöglich falsch abbiegen? Das klingt anstrengend, riskant, allemal untauglich und genau genommen dem Menschen mit seinen heute schier unendlichen Möglichkeiten der individuellen Entwicklung auch gewissermaßen unwürdig. Wenn nun aber – zumindest in unserer Kultur – die Würde des Menschen unantastbar ist, dann mag sich anbieten darüber nachzudenken, dass dieser Grundsatz unseres Zusammenlebens keine Einbahnstraße ist. Auf der Gegenspur darf er so verstanden werden, dass jeder Mensch in der Verantwortung steht, sich seiner Selbstwürde bewusst zu werden. Von innen kommende Selbstwürde und von außen kommende Menschenwürde bilden letztlich gemeinsam das Fundament, damit die ‚Systemgesetze‘ ihre Kraft behalten und entfalten.

Stimmt man nun der Annahme zu, dass jeder Mensch einen individuellen Schatz der Selbstwürde in sich trägt, dann ließe sich daraus eine Fülle von Fragen ableiten, die sich jeder Mensch stellen könnte, um sich über den Status dieses Schatzes bewusst zu werden – zum Beispiel:

  • Würde ich es mit mir selbst vereinbaren können, dass durch meine Entscheidungen und Handlungen andere Menschen direkt oder indirekt zu Schaden kommen?
  • Würde ich es mit mir selbst vereinbaren können, dass von mir beauftragte, gewählte, empfohlene Personen oder Personengruppen mit ihren Entscheidungen und Handlungen andere Menschen direkt oder indirekt existenziellen Schaden zufügen?
  • Würde ich es mit mir selbst vereinbaren können, dass ich im Falle eines durch mich [oder durch meine Beauftragung, Wahl oder Empfehlung von Personen oder Personengruppen] entstandenen direkten oder indirekten existenziellen Schaden an anderen Menschen meine Verantwortung für diesen Schaden nicht übernehme?
  • Würde ich es mit mir selbst vereinbaren können, dass ich im Fall der Bejahung einer dieser Fragen durch die Gemeinschaft der Menschen in meinem Kulturkreis weiterhin als Mensch gewürdigt werde? Und wenn ja, womit würde ich dies begründen?

Fragen wie diese wenden sich letztlich an eine innere Instanz, die Viktor Frankl das ‚Sinn-Organ‘ nannte. Damit meint Frankl das menschliche Gewissen, das – trotz aller Einflüsse von Außen – einem Menschen als Kompass für eigenes Verhalten, eigene Entscheidungen und Handlungen dient. Je nach Ausrichtung der Nadel des individuellen Kompasses orientiert sich der Mensch an einem spezifischen Bündel von Werten. Diese Werte zu kennen, ist wichtig. Sie sich nicht bewusst zu machen, hat zur Folge, dass – wie bei einem Magneten, der in der Lage ist, die Kompassnadel zu beeinflussen – der Mensch Gefahr läuft, sich selbst zu verfehlen, den Selbstwert nicht zu erkennen und letztlich das Leben Anderer zu führen. Ein solcher Mensch ist manipulierbar, kontrollierbar, berechenbar.

Die Folgen eines derartig unausgereiften ‚Kompasses‘ zeigen sich auf brutale Weise insbesondere in der Jugend. Gerade in der Lebensphase der Adoleszenz sind Jugendliche hochsensibilisiert für alle moralischen und wertegeleiteten Fragen, die ihnen ihr Leben stellt. Sie suchen Orientierung, doch nicht jede Familie kann ihnen einen Rahmen ermöglichen für Wertevermittlung und -diskurs, für Halt, Orientierung und Toleranz zur Selbstwertentwicklung. Die Gründe dafür finden sich oft in der Biografie der Ursprungsfamilie, im Zugang zur Bildung oder eben auch in der Nähe von Personen oder Personengruppen, die die Suche und Empfänglichkeit von Jugendlichen ausnutzen. Auch der Schule als Institution fällt es schwer, den Problemen Jugendlicher in schwierigen Lebenslagen gerecht zu werden. Immer häufiger sind die Folgen Alkohol- und Drogenmissbrauch, Schulverweigerung, Gewalt, Fremdenhass, Depressionen oder sogar Suizid an Stelle eines aktiv gestalteten, sinnvollen Lebens mit Kompass.

Was also tun? Die nach den Grundlagen der Logotherapie von Viktor Frankl arbeitenden Therapeuten und Coachs haben bereits überzeugende Formen der Gesprächsführung und unterstützende Methoden hervorgebracht, um Jugendlichen wie natürlich auch Erwachsenen jeden Alters dabei zu helfen, das eigene Wertesystem zu klären. Ihr humanistisches, nicht reduktionistisches Menschenbild beachtet sensibel den fundamentalen Wunsch jedes Menschen, angenommen zu sein [Systemgesetz Bindung/ Beziehung/Anschluss].

Der Fokus auf den jedem Menschen innewohnenden Willen zum Sinn und das Bemühen, im Gespräch existenzielle Fragen auszuhalten und skeptisch gegenüber vorschnellen Antworten zu bleiben [Systemgesetz Struktur/Ordnung/Transparenz] halten zudem den Möglichkeitsraum für den Gesprächspartner offen und damit auch die Freiheit und Verantwortung zu einer gewissenhaften Stellungnahme zu den Lebensthemen, die gerade zur Bewältigung anstehen.

Schließlich wird durch die Arbeit mit Sinn und Werten der Grundstein für eine bewusstere und damit gesündere Lebensführung, eine fruchtbarere Zusammenarbeit und eine Verbesserung der Liebes-, Arbeits- und Leidensfähigkeit geschaffen. Ein Leben auf dieser Basis hält auch schwierige Zeiten aus, die Person bleibt Herr in ihrem Haus und sie kann ihrerseits Menschen besser unterstützen, die ihrer Hilfe oder ihrem Rat bedürfen [Systemgesetz Ausgleich/Balance/Dankbarkeit].

Wird das Konzept der Logotherapie integral erweitert und reichen sich Viktor Frankl und Ken Wilber quasi die Hand, entsteht ein spannendes neues Entwicklungsfeld. Ohne an dieser Stelle bereits alle Facetten dieser Kombinationsberatung oder -therapie aufzeigen zu können, sei ein erster Ausschnitt hervorgehoben. Für Frankl ist es zentral, dass der Mensch nicht derjenige ist, der sein Leben zu befragen hat, was dieses Leben ihm wohl bieten könne. Vielmehr ist es das Leben, das den Menschen danach befragt, ob und wie sinnerfüllt eben dieser Mensch sein Leben gerade jetzt lebt. Mit dieser Perspektive lädt das Leben den Menschen ein, sich mit der aktuell existenziellen Thematik zu befassen. Einer Thematik, die zuweilen wenig erfreulich oder erbauend ist. Wilber nennt hier in seinen Schriften bereits Beispiele, wir könnten aus unserer Arbeit in Therapie und Coaching mühelos weitere anführen und haben dies in unseren Büchern auch vielfach verschriftlicht: existentielle Depression (Gefühl von Lebensstillstand und Sinnlosigkeit), Inauthentizität (Mangel an Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit), existentielle Isolierung (ein starkes Selbst, das sich aber in der Welt nicht zu Hause fühlt), unterdrückte Selbstverwirklichung (Unzufriedenheit in Folge des Nichtausschöpfens der eigenen Möglichkeiten), existentielle Angst (vor dem eigenen Tod, vor der Einschränkung oder dem Verlust körperlicher und geistiger Fähigkeiten) [Wilber]

Der gedankliche Umgang mit einem solchen Stress- und Belastungsthema können wir unter Nutzung des Konzepts der in früheren Beiträgen beschriebenen Werte-Meme meist schnell einem dieser Meme zuordnen. Da die Person zu diesem Thema offenbar nicht das passende Umgangs-Schema entwickelt hat, sondern vielmehr ein unpassendes einsetzt, um die leidige Situation zu verbessern [was leider aber allzu oft in eine Art Verschlimmbesserung führt], kann sie nun im Rahmen einer Integralen Logotherapie darin begleitet werden, diejenigen Werte zu entwickeln, derer es bedarf, um mit dem Thema funktional stimmig umgehen zu können.

Der Gewinn aus einer derartigen Integralen Logotherapie besteht für den belasteten Menschen darin

  • konkrete Empfehlungen zur Werteentwicklung zu erhalten, die in der Lage sind, eine Verminderung der Belastung durch das akute existenzielle Lebensthema zu erhalten
  • sensibel zu werden für den psychischen Mechanismus der ‚Hyperreflexion’, die die Person immer stärker hineinführt in Selbstzweifel, Grübeleien und Schuldzuschreibungen
  • zu lernen, nicht gegen sich selbst zu arbeiten und den eigenen guten Absichten nicht zuwider zu handeln
  • den gesunden wie den ungesunden Anteilen der Persönlichkeitsakzentuierung gleichermaßen Aufmerksamkeit zu schenken und
  • – regelmäßig von uns beobachtbar – zum Ende des Beratungsprozesses ein meist lange verschollenes Phänomen wiederzuentdecken: Das Staunen über sich selbst und den gefundenen Entwicklungsweg.

Viel Glück im Neuen Jahr

‚Ich kann mich nicht mehr so recht freuen‘, ‚Ich fühle mich unglücklich‘, ‚Das alte Jahr hat mich so richtig runtergezogen und ich dachte, nach Corona könne es nur besser werden‘ …

Das Empfinden, sich nicht als glücklich zu erleben, gehört zum Standardproblem in einer Praxis für Psychotherapie. In unzähligen Facetten berichten Menschen von diesem Unglücklichsein. Und davon, wie sie bislang versucht haben, sich ihre Glücksgefühle zurückzuholen. Und davon, dass diese Methoden zwar lecker, erotisch, schnell, euphorisierend usw. waren, nicht jedoch von Dauer. Und auch davon, dass mehr vom Selben ebenfalls nicht das ersehnte Gefühl gebracht habe.  Immerhin, das Gehirn nimmt was kommt und schüttet je nach Veranlagung des Menschen bereitwillig Adrenalin, Oxytocin, Phenylethylamin, Dopamin und andere Botenstoffe aus. Kurzfristig hilft das und tut gut.

Was das Gehirn nicht weiß: Dass es etwas nicht produzieren kann, was die Ursache für das Empfinden des Unglücklichseins ist. Und diese ‚Ur-Sache‘ ist ‚Sinn‘. Sinn ist eine Ur-Sache in Form eines Gegenstandes, auf den sich der Mensch beziehen kann und der ihm die Verwirklichung seiner eigenen Werte ermöglicht. Ein ‚Gegenstand‘ in Form eines Menschen, einer Aufgabe, einer Verantwortung. Fehlt ein solcher Gegenstand, kommt der Mensch in einen unglücklichen Zustand. Dann ist etwas mit ihm ‚los‘ und er empfindet sich in seiner Welt als hilflos, nutzlos, wertlos, sinnlos.

Der Mensch will nicht glücklich sein. Er will einen Grund haben, um glücklich zu sein.
Dieser Satz von Viktor Frankl macht deutlich: Glück ist eine Folge: es folgt dem Gefühl, Sinn im Leben gefunden zu haben. Wem dieses Gefühl abhanden gekommen ist, dem helfen weder Champagner, Sex oder Nougatschokolade. Auch kein Geld.

Wir wissen: Was hilft, ist die Klärung der eigenen Werte. Wer sie kennt und nicht nur glaubt, sie zu kennen, der hat sein Fundament für Resilienz und Sinnfindung gelegt.

In diesem Sinne wünscht Ihnen das Team der KrisenPraxis eine Werteklarheit, mit der Sie gut in dieses und alle Jahre kommen, die noch vor Ihnen liegen werden.