Fröhliche Weihnachten und ein erfreuendes Neues Jahr

Für dieses Jahr verabschiede ich mich von meinen Leserinnen und Lesern. Es gab viel zu tun, denn ich übergebe die meisten meiner Coaching-Ausbildungsprogramme an meine Schweizer Kollegin, Nicole Schwarz. 
In 2025 wird meine Blog-Reihe aufgrund eines Buchprojektes nur in begrenztem Maße fortgesetzt.

2024 – neu: 17. Erste Idee für eine Integral-sinnzentrierte Existenzlehre – nicht nur für Führungskräfte

Die Baby-Boomer gehen in Rente. Und damit auch die Führungs-Boomer. Wer – wie ich – in den 60er Jahren geboren wurde, der hat je nach Qualifikation, beruflicher Ausrichtung und Talenterkennung gegen Mitte der 1980er erste Führungsaufgaben übernommen. Wer dann in der Führungsrolle blieb, der durfte sich mit allerlei Führungskonzepten und Erwartungen an die Aufgabenerfüllung auseinandersetzen. Die heutige Generation dürfte sich für diese damaligen Entwicklungen kaum mehr interessieren, aus systemischer Perspektive jedoch darf man sagen, dass ohne diese Schritte von einst das heutige Rollenbild von Führungskräften kaum gezeichnet werden könnte. Die Entwicklung der Märkte, der Technologien und die verschiedenen Krisen in der Welt und in den Branchen haben immer neue Führungsverständnisse geprägt und sukzessive zu einer atomistischen Collage von Rollenmustern geführt, von denen die letzten Hypes wohl die ‚Führungskraft als Coach‘ [als wäre die Rolle der Führungskraft nicht bereits für sich genommen anspruchsvoll] und die Agile Führungskraft waren/sind. Was aber bis heute stets gleich blieb, ist die Frage, welche Art der Führung hier und heute passend ist, um die Existenz der Unternehmung zu sichern. Mühelos lässt sich diese Frage auch ummünzen in: Welche Art der Führung ist hier und heute passend, um die Existenz der Gesellschaft, der katholischen Kirche, unseres Schützenvereins, unserer Partnerschaft, unserer Familie, des eigenen Lebens zu sichern? Existenzsicherung hat also eine unmittelbare Zukunftsorientierung und die braucht Führung.

Führung beantwortet eine Frage: Wohin?
Wird diese Frage so beantwortet, dass sich Menschen in einer Unternehmung selbst motivieren können, die ‚vorgeführte‘ Richtung mit einzuschlagen, dann hat Führung ihren Zweck erfüllt.

Wer ein Wohin hat, der erträgt fast jedes Was.
Was ist hier und heute zu tun, um das Ziel zu erreichen? Was muss bereitgestellt werden, um Hindernisse zum Ziel aus dem Weg zu schaffen? Was muss ich bereit sein selbst einzubringen, damit die Richtung trotz vielleicht erforderlicher Umwege stimmt? Was kann passieren, um das Ziel zu verfehlen? …

Der Pferdefuß des Wohin zeigt sich dann, wenn ihm etwas Wesentliches nicht vorausgeht – ein Wofür? Wird die Frage nach dem Wofür so beantwortet, dass sich Menschen in einer Unternehmung inspirieren [be-geist-ern] können, einem Impuls zu folgen, der weit mehr ist als bloße Zielgerichtetheit, dann fühlen sie, dass sie ‚über-ihrer-selbst-willen‘ hinaus ihren persönlichen Beitrag einbringen können.

Wofür stehen wir ein und wofür wollen wir uns einsetzen? Wofür ist es gut, dies und nicht jenes zu tun? Wofür braucht die Welt uns? Wofür sollte sich eines Tages jemand an uns erinnern? …

Fehlt dieses Wofür, fehlt Entscheidendes: es fehlt Sinn. Und was machen Menschen, wenn er ihnen fehlt? Sie versuchen, ihn sich selbst zu machen – mit Zielen, mit einem ‚Wohin‘. Und genau das führt in die Irre, denn aus wahrgenommenem Sinn ergeben sich letztlich sinnvolle Ziele. Aber ein Ziel ist längst nicht hinreichend für ein Gefühl, etwas Sinnerfüllendes zu tun.

Um nun ein solches ‚Wofür‘ zu entdecken, braucht es eine etwas geübte Wahrnehmungsweise. Die Übung besteht darin, sich nicht zu fragen: Was nehme ich wahr? [zum Beispiel ein Problem, eine Marktnische, einen Mitarbeiter…]. Vielmehr gilt es, zu fragen: Wie nehme ich wahr, wie nehmen wir wahr, zu was mich/uns die Welt ‚über-meiner/unserer-selbst-willen‘ und zur Sicherung der Existenz der wahrgenommenen Welt aufruft? Mit welcher Bewusstheit schaue ich/schauen wir auf das, worum es geht und ist dies das einzige mögliche Schema, mit dem ich/wir auf das schaue/n, was der Fall ist?

Die Einübung einer solchen Wahrnehmungsweise mag vielleicht einfach erscheinen – sie ist es nicht. Sie bedarf – so gut und gewissenhaft es geht – zuerst der Auflösung blinder Flecke, der Defokussierung und des Abschaltens des Tunnelblicks, im Kern also zuerst dem Unterlassen sofortigen Bewertens bis hin zu einem zynischen Infragestellens im Sinne eines ‚das geht sowieso nicht‘, ‚das kann nur so und nicht anders sein‘, ‚was will die oder der mir schon sagen können‘?. Psychologisch betrachtet verspricht diese Form der Wahrnehmung nach der anfänglichen Anstrengung des Einübens mehr Gelassenheit, mehr Weitblick, mehr Möglichkeit – soviel sei schon verraten, sollte sich der ein oder andere Leser gerade fragen, wozu er sich eine solche Entwicklungsreise antun soll.

Wofür also ist diese andere Wahrnehmungsweise gut? Sie ermöglicht einen größeren Raum der Sicherung der Existenz (des Unternehmens, des Vereins, der Familie, der Gesellschaft, der eigenen Person).

Wer sie als Führungskraft praktiziert, der braucht keine Etiketten für seine Rolle mehr. Dann haben visionäre Führung, spirituelle Führung, systemische Führung, transformationale Führung oder anderes xy-Führungs-Gedöns ausgedient. Die vielen Bücher über Führungslehre: Danke, dass ihr gewesen!

Nicht aber die Bücher über Existenz und geistiger Weltwahrnehmung, wie sie durch Viktor Frankl und Ken Wilber verfasst wurden und als Basisliteratur der Sinn- und Bewusstheitstheorien gelten. Bringt man beide Theorien zusammen, so entsteht ein integral-sinnzentriertes Gedankengut, das auch im Kontext der Führung zu spannenden Erkenntnissen und Handlungsweisen führt.

Ich fasse für neue Leserinnen und Leser einige Aspekte über Existenz und Bewusstheit kurz zusammen [viele weitere Details dazu finden sich bereits reichlich in früheren Beiträgen in diesem Blog]:

  • Frankl argumentiert, dass die Existenz des Einzelnen von entscheidender Bedeutung ist: Der Mensch ist entscheidendes Wesen. Und was er entscheidet ist, wer er im nächsten Moment sein will. Was er aber in jedem Falle ist: Das einzige Wesen ist, das stets nach Sinn in seinem Leben sucht.
  • Sinnsuche ist die grundlegende menschliche Motivation, selbst unter extremsten Bedingungen. Die Fähigkeit des Menschen zur freien Wahl und zur Suche nach Sinn in seiner Existenz können nicht ausgelöscht werden.
  • Sinn ist das ungewollt Gesollte, das nicht würde, ginge vom Einzelnen keine Handlung aus, es zu verwirklichen.
  • Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt die individuelle Macht – das Gewissen – zur Wahl der Reaktion, und jede derart gewählte Reaktion ist Ausdruck der  individuellen Entwicklung und Freiheit des Menschen.
  • Die Existenz eines Menschen ist nicht auf dessen physisches und psychisches Dasein beschränkt, sondern umfasst vielmehr eine dritte, geistige Dimension. Diese erst ermöglicht einen dynamischen Prozess der Sinnfindung und Sinnverwirklichung [was ‚geistig‘ in diesem Kontext meint, wurde in früheren Beiträgen in der KrisenPraxis bereits ausführlich beschrieben].
  • Der Prozess der Sinnfindung ist eine Arbeit an dem in der Gegenwart zu Entdeckende und für die Zukunft zu Erhoffende.
  • Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Hoffnung in die Welt trägt. Er stellt sich dem Brüchigen mit Mitgefühl und Tatkraft. Das Phänomen Hoffnung scheint ein Existenzial in der Natur des Menschen zu sein.
  • Menschen verarmen seelisch und geistig nicht durch das, was sie nicht bekommen, sondern durch das, was sie auszusenden verabsäumen. Es gibt ein Wechselverhältnis zwischen Wohlwollen und Wohlergehen.
  • Gerade die Unvollkommenheit der Welt ist das stärkste Argument gegen den Nihilismus und gegen die Absage an die Suche nach Sinn. Unvollkommenheit und Heilbedürftigkeit sind zentrale Hinweise auf menschliches Gebrauchtsein.
  • Jede Tatsache ist unvollendet. Sie wartet auf einen menschlichen Beitrag. Es ist Unfug anzunehmen, dass man nur geben kann, was man zuvor empfangen hat. Jeder Mensch kann die Welt jederzeit um Gutes bereichern. Auch dann, wenn er selbst noch nicht hat, was er psychisch oder physisch braucht.

Unter Bewusstheit verstehen wir die psychische Disposition, die das unmittelbare Wahrnehmen dessen beschreibt, was einen Menschen in eigener Achtsamkeit im Hier und Jetzt bewegt und ihm aktuell gewahr wird, seien es Körperempfindungen, Sinneseindrücke, Gefühle, Fantasien, Denkmuster und Impulse. Bewusstheit ist somit Aufmerksamkeit auf Gegenwärtiges.

Jede Bewusstheit und damit auch jede Aufmerksamkeit auf Gegenwärtiges ist eine von vielen möglichen Ausprägungen von Bewusstheit. Sie ist stets ein Teil eines Bewusstheitsraums. Wir nennen diesen Teil eines Bewusstheitsraums auch ‚Schema‘, mit dem ein Mensch auf ein Thema schaut – auf das, was aus seiner Sicht die Lage ist.

  • Ein Teil eines Bewusstheitsraums können wir kurz ‚Holon‘ nennen (von griech. hólos und on „ganzes Seiendes“). Dieser Begriff bedeutet ein Ganzes, das Teil eines anderen Ganzen ist. So ist eine Zelle ein Teil eines Organs, das ein Teil eines Körpers ist. Ein Mensch ist Teil einer Familie, diese ein Teil einer Sippe, diese ein Teil eines Volkes. Ein Gedanke ist Teil einer Sequenz von Gedanken, diese ein Teil eines Gedankenaustauschs, dieser ein Teil eines Kollektivs an Gedanken ….
  • Ein Schema eines Menschen im Sinne einer gegenwärtigen Bewusstheit ist Teil all seiner bisher entwickelten Bewusstheiten. Diese wiederum sind Teil aller bislang möglichen Bewusstheiten und diese wiederum Teil aller Bewusstheiten die in ferner Zukunft als Schemata der Aufmerksamkeit auf Gegenwärtiges zur Verfügung stehen werden.
  • Jede Bewusstheit ist für sich betrachtet als ganzes Teil ganz bewusst und zudem ist es nur teilweise bewusst, weil das nächst höhere Ganze ‚ganzer‘ ist.
  • Ein holares System kann als Modell von Schichten verstanden werden, bei der jede einzelne Schicht nur sich selbst reflektieren kann, zudem es aber vermag, untergeordnete Schichten zu integrieren.
  • Jedes Holon ist stets bestrebt autonom zu bleiben. Das gelingt solange, bis das bestehende Schema unattraktiv wird. Bis dies jedoch geschieht, werden Differenzierungsprozesse vollzogen, die zwar Entwicklung anzeigen, jedoch das Schema im Kern bewahren. Erst wenn die Unterschiede zwischen Bestehendem und Unbekanntem als attraktive alternative Möglichkeit bewusst wird, kann sich das Holon auf die nächsthöhere Ebene transzendieren.
  • Die höhere Ebene ist von größerer Komplexität und integriert ihrerseits nun alle vorangegangenen.
  • Alle Ebenen der Bewusstheit stehen als Potential einem Menschen zur Verfügung. Wenn dieses Potenzial nicht ausgeschöpft wird [im Sinne Frankls: wenn der Raum der Freiheit zwischen Reiz und Reaktion nicht genutzt wird, um eine sinnorientierteres Schema im Umgang mit einem Thema einzusetzen], so mag dies beeinflusst sein durch zum Beispiel:
    => Gewohnheitshandeln
    => Lageorientierung und Phlegma
    => Angst vor den Folgen einer persönlichen Entwicklung
    => Ein Veränderungsresistenz unterstützendes Wertesystem
    => Ein fehlender Kommunikationsraum zu Menschen, die die Entwicklung bereits vollzogen haben
    => Unterentwickeltes Erfühlen von Attraktoren
    => Hoher Anteil an Fremdsteuerung durch Glaubenssätze oder durch das konkrete menschliche Umfeld ….

Bezogen auf die Führung führt uns eine integral-sinnzentrierte Perspektive zu diesem Gedanken: Da Menschen sich nur selbst dazu motivieren können, ihren bewussten Umgang mit Gegenwartsthemen neu zu gestalten, bleibt für Führungskräfte pragmatisch gesehen einzig die Aufgabe, den Möglichkeitsraum für selbstgesteuerte Bewusstheitsentwicklung den Mitarbeitenden offen zu halten. Dazu können erbauende Gespräche einen ersten guten Beitrag leisten. Für noch mehr Tiefgang kann sich aber auch anbieten, dass Führungskräfte aktiv denen, die die Führungskräfte- und Personalentwicklung in ihren Unternehmen steuern, den Auftrag geben, entsprechende Weiterbildungen, Foren, Vortragsimpulse usw. einzuplanen. Das ist inhaltlich kein Hexenwerk, fördert die Diskursfähigkeit in der Belegschaft und macht dem Einzelnen verständlicher, wie man Informationen verschiedenperspektivisch deuten, wie man Trampelpfade der Entscheidungsfindung verlassen, wie man sein bisher gelebtes Leben besser verstehen und das noch vor einem liegende werteorientierter gestalten kann.

Wenn meine Behauptungen zutreffen, dass es heute keinerlei Mangel an analogen und digitalen Angeboten gibt, die den Kontext Sinnfindung und Bewusstheitsentwicklung adressieren und dass es ferner ein Sinnbedürfnis gibt, das das Leben jedes Menschen flankiert [Studienbeiträge dazu u.a. aus 1963 2006 2016], dann stellt sich die Frage, worin die Gründe dafür liegen könnten, dass diesem Themenspektrum ein vergleichsweise geringes Interesse in Unternehmen beigemessen wird.

Meine Reflexionen dazu:

  • Qualifikationen in diesen Themenfeldern können als problematisch angesehen werden, weil sich durch umfassendere individuelle Bewusstwerdungsprozesse existenzielle Fragestellungen ergeben können, auf die Unternehmen ihrerseits dann keine Antworten zu geben in der Lage sind. Mancherorts mag es daher immer noch das Mindset geben, Menschen lieber ‚klein und dumm‘ zu halten, damit sie als Erfüllungsgehilfen für Unternehmenszwecke einfach ihrer Arbeit nachgehen. Hier besteht die Angst der Entscheider, die ‚Geister, die man förderte, nicht mehr los zu werden‘. Ich plädiere hier seit langem für eine ‚Souveränisierung‘ des Themas Bewusstheitsqualifizierung zur Stärkung der Unternehmenszukunftsentwicklung, treffe aber allzu oft noch auf eine einseitige Fokussierung auf Anpassungsqualifizierungsmaßnahmen und auf – fraglos auch wichtige – rein leistungszweckorientierte Formate.
  • Stapelkrisen mit ihren gravierenden Störungen des Motivations-Flows führen immer häufiger zum individuellen Gefühl bei Führungskräften und Mitarbeitenden, den Sinn [meaning] und den Zweck [purpose] der eigenen Arbeit nicht mehr so recht erkennen zu können [Studien dazu: 2010  2016 2020]. Spätestens jetzt wird der Unfug deutlich, der vor Jahren initiiert wurde, als man Führungskräften den Auftrag gab, als Sinnstifter für die Mitarbeiter ihres Bereichs zu fungieren [Beispiel dazu, mit dem Inbegriff des Unfugs: „Der Unternehmer Steve Jobs scheint bei Apple in der Tat ein Gott, ein richtiger Sinnstifter zu sein“]. Auch wenn ich mich wiederhole: Selbst Führungskräfte können Sinn nicht machen, stiften oder produzieren. Was sie können ist, Zwecke zu definieren. Es kann zweckdienlich sein, Kosten zu senken, ein Produkt zu entwickeln, einen Mitarbeiter einzustellen, sich von einem Lieferanten zu trennen, die Organisation zu verschlanken … Mit solchen Zwecken haben Führungskräfte bereits reichlich zu tun, wollen sie entlang der täglichen Unsicherheiten, Unberechenbarkeiten und disruptiven Veränderungen die Leistungsfähigkeit ihrer Teams und Mitarbeiter mit ihrem Führungsverhalten unterstützen. Die Aufgabe eines Menschen, Sinn im eigenen [Berufs-]Leben zu finden, hat jedoch nichts mit der Rolle einer Führungskraft zu tun – im Gegenteil: vor diese Aufgabe sind sie selbst ebenso gestellt wie jeder andere Mensch auch. Und ob ihre Führungsrolle für ihren eigenen Findeprozess dienlich ist, darf zumindest angezweifelt werden, schaut man auf die Zahlen an psychischen Erkrankungen, die diese Personengruppe betreffen – und die ich als Therapeut auch zu meinem Kreis der Klienten zähle.
  • Dem Zeitgeist entsprechend findet sich in der Führungsforschung heute ein starkes Interesse daran zu erfahren, wer sich eigentlich als Person hinter der Rolle befindet, die sich Führungskraft nennt. Statusgemäß finden sich solche Ausführungen in Biografien, die Topmanager und Firmengründer im Rückblick auf ihr Tun und Schaffen verfassen [z.B. Alfred Sloan 1964 – General Motors; Jack Welsh 2001 – General Electric; Götz Werner 2015 – dm …]. Blickt man aber auf das weite Feld der Führungskräfte in Deutschland, so sprechen wir über gut eine Million Frauen und Männer, denen direkt oder indirekt zugeschrieben wird, authentische Vorbilder [2021] für ihre Mitarbeiter sein zu sollen. Mit einer solchen Zuschreibung habe ich, in der Tat, ein Problem – und das nicht ohne Blick auf meine eigene Zeit in Führungsrollen. Schaut man auf Studien zum Thema ‚persönliche Erfahrungen und Eigenschaften von Führungskräften‘, so liest man davon, dass Führungskräfte, die Schlüsselaspekte ihrer inneren Erfahrungen in ihrem Führungsverhalten zum Ausdruck bringen, es schaffen, einen positiven Einfluss zu nehmen auf die Befriedigung des Bedürfnisses ihrer Mitarbeiter nach einem stabilen Selbstkonzept [Studien: 1991 1993 1998]. Ich will nicht verhehlen, dass die sozialkognitive Lerntheorie von Bandura mit ihrem Hinweis darauf, dass Menschen das ‚Lernen am Modell‘ für ihre eigene Entwicklung nutzen, ihren Stellenwert auch heute noch in der Psychologie verdient. Und ich will auch nicht in Frage stellen, dass es gut tun kann, wenn eine Führungskraft in der Lage ist, ein idealisiertes zukunftsorientiertes Bild ihres Verantwortungsbereiches zu zeichnen. Manchen Mitarbeitenden kann so geholfen werden, zu erkennen, dass die eigene Arbeit Teil eines ‚größeren Ganzen‘ ist [vgl. o.g. Hinweise zum ‚Holon‘]. Und schon gar nicht will ich bezweifeln, dass es ein noch besseres Gefühl eines stabilen Selbstkonzepts erzeugen hilft, wenn ein Mitarbeiter dieses positive Modell-Lernen aufgrund einer länger andauernden Zusammenarbeit mit einer Führungskraft immer wieder realisieren kann. Das, was ich zu bedenken geben will ist, dass es zuerst eines externen, objektiven Kontextes bedarf, wir können ihn Sinn-Impuls nennen oder – weniger aufgeladen – schlicht einen ‚Gegenstand‘, auf den sich ein arbeitender Mensch in Liebe und/oder Hingabe ausrichtet. Fehlt ein solcher Gegenstand, findet die Person keinen Sinn. Fehlt zum Beispiel einer im Pharmabereich arbeitenden Person der Impuls, einen Beitrag zur Gesunderhaltung der Gesellschaft [Gegenstand] mithilfe seiner aufgebauten Kompetenzen leisten zu sollen, dann schafft es auch keine Führungskraft mit dem Hinweis darauf, dass das Unternehmen Produkte entwickelt hat, die es wert wären, verkauft zu werden, damit einer bestimmten Krankheit entgegengewirkt werden kann. Was in einem solchen Beispiel von einer Führungskraft geleistet werden kann ist nicht mehr und nicht weniger, den Weg nicht zu versperren, damit Mitarbeitende ihre Möglichkeit selbstmotiviert ausschöpfen können, den in der Welt ohne jedes menschliche Zutun gegebenen Sinn zu entdecken und bei dieser Entdeckung zu erfühlen, wie eigene Werte dazu beitragen, dass das Gesollte zum persönlich Gewollten wird.
  • Immer ist es ein ‚Gegenstand‘, der prägt und legitimiert, was vom Einzelnen selbst als sinnvoll angesehen wird. Alle Sinn-Wahrnehmung geht daher notwendigerweise vom ‚Selbst‘ der Person aus, von seinem Selbstwert, seinem Selbstvertrauen, seiner Selbstsicherheit usw. Was von einer Person als Gegenstand mit Sinngehalt wahrgenommen, dann gedeutet und kognitiv verarbeitet wird, kann eine andere Person mit sich selbst eingedenk eines anderen Wertesystems womöglich als völlig unvereinbar ansehen. Wenn es also so etwas wie einen Sinnstifter geben soll, dann findet er sich nie in der Person einer Führungskraft, sondern stets in der Welt in Form eines objektiven Kontextes, der auch nie verschwinden würde selbst dann nicht, gäbe es keinerlei Menschen in der Rolle einer Führungskraft. Andersherum kann es für einen Mitarbeiter anregend sein zu hören oder es mittels konkreter Handlungen zu erleben, wofür sich eine Führungskraft aufgrund welchen Wertekanons für den von ihr wahrgenommenen Sinn einsetzt. Jedes Gespräch darüber kann ich nur begrüßen, würde es in Unternehmen – und nicht nur dort – geführt, dennoch lohnt es sich zu bescheiden, würde man diese Gespräche mit der Absicht anbieten wollen, den oder die anderen auf irgendeinen Pfad fremdmotivierter Tugend zu führen.

Statt einer zum Scheitern verurteilten Selbstüberforderung, einem sinnstiftenden Rollenverständnis nachzueifern, mag Führungskräften eine integralere Sicht auf die Prozesse der Sinnwahrnehmung helfen. Wenn die Leserinnen und Leser der KrisenPraxis im Archiv zurückschauen auf die Beiträge, in denen ich die Werte-Meme-Ebenen [Stichworte: Ken Wilber, Clare Graves, Spiral Dynamics] vorgestellt habe, dann will ich diesen nun an dieser Stelle einige Thesen folgen lassen:

  • Wenn ein Mensch einer beruflichen Tätigkeit nachgeht, dann wird er bestrebt sein, das/die bei ihm am stärksten entwickelte/n Werte-Meme-Ebene zu aktivieren. Ein Sinn-Impuls, in dessen Kern beispielsweise das Thema ‚tue etwas für die Verbesserung bislang als willkürlich empfundene, intransparente Zahlungsaufforderungen von Energieversorgern‘ steckt, wird eher von einer Person aufgegriffen werden, die sich in ihrem Verhaltens- und Handlungsschema an einem stark entwickelten Rot-Blau-Meme-Wertesystem orientiert. Erfährt eine solche Person aus ihrem Umfeld für ihre Widerstands-Initiative Anerkennung, dann können wir dies ‚Wertschätzung‘ nennen. Das Meme-Set wurde durch das Thema angeregt und mittels Verhaltensschema verwirklicht. Anders ausgedrückt: Der Sinnimpuls erreichte eine Person, die aktiv die Bedeutung ihres Verhaltens komponierte, indem sie hinsichtlich dessen, was sie als Thema bemerkte, konkret handelte und durch die empfangene Wertschätzung eine Stärkung ihrer Selbsterkenntnis und eine Rechtfertigung für künftiges Handeln bei ähnlich gelagerten Themen erfährt.
  • Nehmen wir dieses Beispiel und vergrößern wir den Rahmen auf die Millionen Themen, die täglich verfügbar sind, um sich individuell für die Existenz von Allem in irgendeiner Weise einzubringen, dann wird klar, dass jedes dieser Themen ein spezifisches Werte-Meme adressiert. Für jedes Meme – davon dürfen wir ausgehen – findet sich ein Set an Themen mit Sinngehalt, keine Werte-Meme-Ebene kann daher eine stärkere Sinnorientierung für sich behaupten als eine andere. Vielmehr könnte man sagen: Es braucht stets die Person/en mit passendem Werte-Meme zur passenden Zeit am passenden Ort, damit ein in der Welt vorhandenes Thema zu seiner Verwirklichung geführt wird.

‚Ich fühle mich aufgerufen und angesprochen‘ – ‚ich habe verstanden, worum es geht‘ – ‚ich habe überlegt, ob ich es kann‘ – ‚ich habe gefühlt, ob ich es will‘ – ‚ich kann mitteilen, warum ich es tue‘. In dieser Reihenfolge lässt sich der Prozess beschreiben von der Sinnwahrnehmung, über die kognitive Deutung des Wahrgenommenen, hin zu einer kognitiven Wertung der bewussten Ressourcen, einer emotionalen Einbettung dieser Wertung in die eigene Biografie und letztlich hin zu einer selbstmotivierten Handlung.

Denkt man diesen Prozess weiter, so kann man nachvollziehen, dass es alles andere als voraussetzungslos ist, soll ein objektiver Sinn zu einer subjektiven Handlung werden. Und wird er zu einer Handlung, dann ist diese ihrerseits von der individuell-biografischen Werteentwicklung abhängig. Diese Werteentwicklung wiederum ist der Prozess, der dazu beiträgt, dass eine Person im Hier und Jetzt ein Schema aktiviert, mit dem sie mit einem auf sie zukommenden Thema umgeht. Ergo können wir konstatieren, dass ein objektiver Sinn je nach Werte-Meme einer Person, die diesen Sinn wahrnimmt, in unterschiedlicher Weise in eine subjektiv selbstmotivierte Handlung transformiert wird. Und hieraus folgt wiederum, dass ein Sinn objektiv bleibt, selbst dann, wenn die Transformation in eine subjektive Handlung in eigener oder fremder Anschauung misslingt.

  • Eine Führungskraft, die sich in der Bestimmung sieht, Menschen zu führen und die einen solchen Sinnimpuls in ihrem beruflichen Umfeld empfängt, kann dies also völlig anders in Führungshandeln transformieren als eine andere Person, die sich entlang ihrer Werte ebenfalls aufgerufen fühlt, eine solche Rolle einzunehmen [eine Person mit ausgeprägtem rot-blauen Werte-Meme-System geht mit dem Thema ‚Führung‘ anders um als jemand mit zum Beispiel einem stark grün-gelben System]. Inwieweit das jeweilige Führungshandeln als gedeihend bewertet werden kann, wird abhängen von der Passung der Werte dieser Führungskraft und denen der Mitarbeitenden. Meine Empfehlung an Führungskräfte lautet daher stets, im Kontakt mit Mitarbeitenden immer wieder darüber zu sprechen, wofür man sich aufgerufen fühlt und worum es einem deshalb in der Führungsrolle geht.
  • Hat man Sinnwahrnehmung und Werteverständnis mit Mitarbeitenden zu einem hinreichenden Einklang führen können, so stehen Zielvereinbarungen und Zielerfüllungsgrade auf dieser Basis unter deutlich besseren Vorzeichen als wenn Führungskräfte sich lediglich über ihre Selbstmotivation an ihre Mitarbeitenden wenden. In diesem Fall drücken sie sich in ihrer täglichen Kommunikation durch den Einsatz bewusster Rhetorik aus, in der Hoffnung, dass die Mitarbeitenden dadurch erkennen mögen, was der Führungskraft für eine erfolgreiche Zusammenarbeit von Bedeutung ist [1993]. In der Selbstkonzeptforschung geistert in diesem Kontext seit langem die Vorstellung herum, dass Führungskräfte mittels Einsatz von Visions-Kommunikation ihr individuelles Selbst mit denen ihrer Mitarbeitenden verbinden und diese Verbindung für die Mitarbeiter quasi zum Inbegriff der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit wird [zahlreiche Verweise dazu – insbesondere aus dem US-amerikanischen Wissenschaftsbereich – finden sich hier aus dem Jahr 2022]. Es mag wohl Protagonisten in der Gestalt der Chefs von Tesla, Amazon, Apple oder Facebook geben, die derart euphorisierend auf Teile ihrer Belegschaft wirken, so dass ihr bloßes Erscheinen bereits eine Art Trance induziert und Menschen glauben lässt, hier seien die leibgewordenen Sinnstifter unterwegs. Es mag zudem Menschen geben, die sich in ihrem Berufsleben dem dysfunktionalen Anteil des ziel- und leistungsorientierten Orange-Meme [siehe dazu die zahlreichen Erklärungen in früheren Beiträgen hier in der KrisenPraxis] freiwillig verschreiben [diesen Anteil können wir mit den Stichworten Selbstoptimierungswahn, Unterordnung unter die Suggestionen von Influencern oder auch turbokapitalistische Lebensführung umreißen]. Am Ende der psychophysischen Möglichkeiten angekommen, finden sich diese Menschen dann häufig wieder im Erleben einer Erschöpfungsdepression, in Verlust- oder Versagensängsten, in einem mächtigen Gefühl der Sinnleere.
  • Einen in der Welt jederzeit für jeden Menschen gegebenen objektiven Sinn als Ausgangspunkt der Ausformung eines gelingenden individuellen [Berufs-]Lebens heranzuziehen, steht in meiner Anschauung stets über dem, was die Theorie der Selbstkonzepte nahelegt: Dass sich Führungskräfte im Speziellen als auch Menschen im Allgemeinen lediglich im Einklang mit ihren inneren Überzeugungen, Werten und Identitäten verhalten, um ihre intrinsischen Bedürfnisse nach Selbstdarstellung und Selbstkonsistenz zu erfüllen. Dies zu tun, vermag zwar für die meisten Menschen bereits verlockend genug zu sein und es ist leicht nachzuempfinden, dass allzu viele Menschen danach streben, betrachtet man die bloße Menge derer, die unter schwierigsten Bedingungen tagtäglich versuchen müssen, einfach über die Runden zu kommen. Trotzdem folge ich mit meinen Überlegungen Viktor Frankl, wenn er klarlegt, dass jeder Mensch jederzeit unter dem Einfluss von Bedingungen steht, dabei jedoch stets frei ist, sich so oder so zu diesen Bedingungen zu stellen.
    Sich nicht abzugeben in die Selbstkonzepte anderer, damit das eigene [Berufs-]Leben zu leben und nicht das Leben anderer; sich der eigenen Werte-Meme bewusst zu werden; eine Wahrnehmung zu erlernen, mit der Sinnimpulse die Chance erhalten in den Vordergrund zu rücken  – dies sind die wesentlichen Aspekte einer integral-sinnzentrierten Existenzlehre. Ein Führungshandeln, das auf einer solchen Lehre aufbaut, darf sich nicht auffressen lassen von den Bedingungen, unter denen Führungskräfte nun einmal qua Rolle täglich stehen und die anstrengend genug sind, so dass den Menschen Respekt gebührt, die bereit sind, diese Rolle einzunehmen. Im Gegenteil: Ein Führungshandeln, das erkennen lässt, dass die Führungskraft begonnen hat, einen Perspektivenwechsel hin zum Sinn zu vollziehen, zeigt sich in einer Klarheit und Klugheit in der eigenen Lebensführung, die der nicht mehr missen mag, der diese Schritte gegangen ist.

Zum Schluss eine Anmerkung zur einer Studie, in der ein Hohelied auf die ‚Visionäre Führung‘ gesungen wird und in deren Resümee auf ein ‚faszinierendes empirisches Ergebnis‘ hingewiesen wird. Das Ergebnis fokussiert ältere Forschungen, die postulierten, dass die Wirkung visionärer Führung auf das Empfinden von Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit bei Mitarbeitenden mit der Zeit abnehmen. Nun wurde diese Hypothese konkretisiert: „Basierend auf der Vorstellung, dass das arbeitsbezogene Selbstkonzept dynamisch ist und sich zumindest teilweise durch die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter entwickelt, bieten wir einen spezifischen theoretischen Blickwinkel für diese zeitlichen Effekte. Unsere Ergebnisse zeigen, dass ein „Ablaufdatum“ des Führungseinflusses für die visionäre Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter nach etwa sechs Jahren dyadischer Zusammenarbeit zwischen Führungskraft und Mitarbeiter zu erwarten ist.“  [Original: Based on the notion that the work-related self-concept is dynamic and, at least in part, evolves through the leader–follower relationship, we provide a specific theoretical angle for these temporal effects. Our results show that an “expiration date” of leadership influence for the visionary leadership–follower meaningfulness relationship may be expected after about 6 years of leader–follower dyadic tenure.]

Okay: Bei – angenommen – 40 Berufsjahren braucht es bei sechs Jahren Wirkkraft visionärer Führung also gut sieben Führungskräfte, die einem Mitarbeiter nach und nach ein beständiges Empfinden von Sinn in der Arbeit vermitteln. Da sag ich doch mal: ‚Heureka‘!

2024 – neu: 16. Erste Idee für eine Integrale Logotherapie

Da wird man nichtsahnend in die Welt geworfen und wird mit dem ersten Luftschnapper auf Konfrontation geeicht. Von einem Jemand oder einem Etwas. Der Raum der Erwartungen, in den man da hineinkonfrontiert wird, ist vollgestopft mit Vorstellungen, Idee, Wünschen, Hoffnungen und Motiven anderer. Man wird erzogen, belehrt, sozialisiert, ausgerichtet, indoktriniert, unterrichtet, instrumentalisiert, geprägt, … – meist mit guten Absichten, in liebevollen Beziehungen, Strukturen und gar nicht mal so selten mit dem Gedanken der Eltern, mit eigenen Kindern der Welt etwas zurückgeben zu können, was man selbst einst empfangen hat: mit Leben. Ausgleich, Bindung, Ordnung: diese drei Prinzipien dürfen in keinem System verletzt werden, ansonsten drohen Stress, Konflikt oder Krieg. Systemiker haben aus diesen Überlegungen heraus zentrale ‚Systemgesetze‚ abgeleitet [einfach mal nach diesem Begriff die Suchmaschine anwerfen]. Wird das Selbstsystem, das Familiensystem, das Arbeitssystem, …, das Gesellschaftssystem, … nicht entlang dieser  Gesetze gestaltet und gesteuert, dann gibt’s über kurz oder lang Probleme, Störungen, Krankes und Verletzendes.

Wer sich durch Geburt in sein Leben hineinwirft, hat es demnach bereits mit bestehenden Prinzipien zu tun, die diesem Leben einen ‚gesetzten‘ Rahmen verleihen. In den ersten Jahren hat das Kind mit den elterlichen Interpretationen dieser Prinzipien zu tun, in der Pubertät wird an diesen dann mehr oder weniger gerüttelt und später dann ‚erwächst‘ die Freiheit und die Verantwortung dafür, erlebte Verletzungen der Prinzipien durch Eltern, Mitschüler, Lehrer, Geistliche … zur Heilung zu bringen. Systemisch arbeitende Therapeuten können dabei helfen, manchmal reicht aber bereits eine angeborene oder entwickelte Resilienz, um hinter sich lassen zu können, was nach hinten gehört.

Eine andere ‚Alternative‘ bieten zuweilen Sekten, gewisse Parteien oder manipulative Menschenfänger an, die suggerieren, sie könnten quasi die Arbeit für die real oder vermeintlich von Systemverletzungen betroffene Person erledigen. Dafür müsse die Person sich einfach bei ihnen abgeben, sie wählen oder sie auf ihrer schiefen Bahn begleiten. Dass sich Menschen davon beeindrucken und beeinflussen lassen, war schon immer so und wird – sollten nicht mehrere Wunder geschehen –  leider wohl auch immer so bleiben. Damit nun diese ‚Alternativen‘ mit ihren toxischen Energien in Grenzen gehalten werden, müssen sich die Systemgesetze als robust erweisen, ohne dabei die Freiheit und Verantwortung des Einzelnen zu erwürgen. Ein solcher Prozess ist immer eine Gratwanderung, ihn aufzugeben oder auf dem Grat falsch abzubiegen jedoch führt geradewegs ins dystopische Verderben.

Auf Wunder warten? Auf dem Grat womöglich falsch abbiegen? Das klingt anstrengend, riskant, allemal untauglich und genau genommen dem Menschen mit seinen heute schier unendlichen Möglichkeiten der individuellen Entwicklung auch gewissermaßen unwürdig. Wenn nun aber – zumindest in unserer Kultur – die Würde des Menschen unantastbar ist, dann mag sich anbieten darüber nachzudenken, dass dieser Grundsatz unseres Zusammenlebens keine Einbahnstraße ist. Auf der Gegenspur darf er so verstanden werden, dass jeder Mensch in der Verantwortung steht, sich seiner Selbstwürde bewusst zu werden. Von innen kommende Selbstwürde und von außen kommende Menschenwürde bilden letztlich gemeinsam das Fundament, damit die ‚Systemgesetze‘ ihre Kraft behalten und entfalten.

Stimmt man nun der Annahme zu, dass jeder Mensch einen individuellen Schatz der Selbstwürde in sich trägt, dann ließe sich daraus eine Fülle von Fragen ableiten, die sich jeder Mensch stellen könnte, um sich über den Status dieses Schatzes bewusst zu werden – zum Beispiel:

  • Würde ich es mit mir selbst vereinbaren können, dass durch meine Entscheidungen und Handlungen andere Menschen direkt oder indirekt zu Schaden kommen?
  • Würde ich es mit mir selbst vereinbaren können, dass von mir beauftragte, gewählte, empfohlene Personen oder Personengruppen mit ihren Entscheidungen und Handlungen andere Menschen direkt oder indirekt existenziellen Schaden zufügen?
  • Würde ich es mit mir selbst vereinbaren können, dass ich im Falle eines durch mich [oder durch meine Beauftragung, Wahl oder Empfehlung von Personen oder Personengruppen] entstandenen direkten oder indirekten existenziellen Schaden an anderen Menschen meine Verantwortung für diesen Schaden nicht übernehme?
  • Würde ich es mit mir selbst vereinbaren können, dass ich im Fall der Bejahung einer dieser Fragen durch die Gemeinschaft der Menschen in meinem Kulturkreis weiterhin als Mensch gewürdigt werde? Und wenn ja, womit würde ich dies begründen?

Fragen wie diese wenden sich letztlich an eine innere Instanz, die Viktor Frankl das ‚Sinn-Organ‘ nannte. Damit meint Frankl das menschliche Gewissen, das – trotz aller Einflüsse von Außen – einem Menschen als Kompass für eigenes Verhalten, eigene Entscheidungen und Handlungen dient. Je nach Ausrichtung der Nadel des individuellen Kompasses orientiert sich der Mensch an einem spezifischen Bündel von Werten. Diese Werte zu kennen, ist wichtig. Sie sich nicht bewusst zu machen, hat zur Folge, dass – wie bei einem Magneten, der in der Lage ist, die Kompassnadel zu beeinflussen – der Mensch Gefahr läuft, sich selbst zu verfehlen, den Selbstwert nicht zu erkennen und letztlich das Leben Anderer zu führen. Ein solcher Mensch ist manipulierbar, kontrollierbar, berechenbar.

Die Folgen eines derartig unausgereiften ‚Kompasses‘ zeigen sich auf brutale Weise insbesondere in der Jugend. Gerade in der Lebensphase der Adoleszenz sind Jugendliche hochsensibilisiert für alle moralischen und wertegeleiteten Fragen, die ihnen ihr Leben stellt. Sie suchen Orientierung, doch nicht jede Familie kann ihnen einen Rahmen ermöglichen für Wertevermittlung und -diskurs, für Halt, Orientierung und Toleranz zur Selbstwertentwicklung. Die Gründe dafür finden sich oft in der Biografie der Ursprungsfamilie, im Zugang zur Bildung oder eben auch in der Nähe von Personen oder Personengruppen, die die Suche und Empfänglichkeit von Jugendlichen ausnutzen. Auch der Schule als Institution fällt es schwer, den Problemen Jugendlicher in schwierigen Lebenslagen gerecht zu werden. Immer häufiger sind die Folgen Alkohol- und Drogenmissbrauch, Schulverweigerung, Gewalt, Fremdenhass, Depressionen oder sogar Suizid an Stelle eines aktiv gestalteten, sinnvollen Lebens mit Kompass.

Was also tun? Die nach den Grundlagen der Logotherapie von Viktor Frankl arbeitenden Therapeuten und Coachs haben bereits überzeugende Formen der Gesprächsführung und unterstützende Methoden hervorgebracht, um Jugendlichen wie natürlich auch Erwachsenen jeden Alters dabei zu helfen, das eigene Wertesystem zu klären. Ihr humanistisches, nicht reduktionistisches Menschenbild beachtet sensibel den fundamentalen Wunsch jedes Menschen, angenommen zu sein [Systemgesetz Bindung/ Beziehung/Anschluss].

Der Fokus auf den jedem Menschen innewohnenden Willen zum Sinn und das Bemühen, im Gespräch existenzielle Fragen auszuhalten und skeptisch gegenüber vorschnellen Antworten zu bleiben [Systemgesetz Struktur/Ordnung/Transparenz] halten zudem den Möglichkeitsraum für den Gesprächspartner offen und damit auch die Freiheit und Verantwortung zu einer gewissenhaften Stellungnahme zu den Lebensthemen, die gerade zur Bewältigung anstehen.

Schließlich wird durch die Arbeit mit Sinn und Werten der Grundstein für eine bewusstere und damit gesündere Lebensführung, eine fruchtbarere Zusammenarbeit und eine Verbesserung der Liebes-, Arbeits- und Leidensfähigkeit geschaffen. Ein Leben auf dieser Basis hält auch schwierige Zeiten aus, die Person bleibt Herr in ihrem Haus und sie kann ihrerseits Menschen besser unterstützen, die ihrer Hilfe oder ihrem Rat bedürfen [Systemgesetz Ausgleich/Balance/Dankbarkeit].

Wird das Konzept der Logotherapie integral erweitert und reichen sich Viktor Frankl und Ken Wilber quasi die Hand, entsteht ein spannendes neues Entwicklungsfeld. Ohne an dieser Stelle bereits alle Facetten dieser Kombinationsberatung oder -therapie aufzeigen zu können, sei ein erster Ausschnitt hervorgehoben. Für Frankl ist es zentral, dass der Mensch nicht derjenige ist, der sein Leben zu befragen hat, was dieses Leben ihm wohl bieten könne. Vielmehr ist es das Leben, das den Menschen danach befragt, ob und wie sinnerfüllt eben dieser Mensch sein Leben gerade jetzt lebt. Mit dieser Perspektive lädt das Leben den Menschen ein, sich mit der aktuell existenziellen Thematik zu befassen. Einer Thematik, die zuweilen wenig erfreulich oder erbauend ist. Wilber nennt hier in seinen Schriften bereits Beispiele, wir könnten aus unserer Arbeit in Therapie und Coaching mühelos weitere anführen und haben dies in unseren Büchern auch vielfach verschriftlicht: existentielle Depression (Gefühl von Lebensstillstand und Sinnlosigkeit), Inauthentizität (Mangel an Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit), existentielle Isolierung (ein starkes Selbst, das sich aber in der Welt nicht zu Hause fühlt), unterdrückte Selbstverwirklichung (Unzufriedenheit in Folge des Nichtausschöpfens der eigenen Möglichkeiten), existentielle Angst (vor dem eigenen Tod, vor der Einschränkung oder dem Verlust körperlicher und geistiger Fähigkeiten) [Wilber]

Der gedankliche Umgang mit einem solchen Stress- und Belastungsthema können wir unter Nutzung des Konzepts der in früheren Beiträgen beschriebenen Werte-Meme meist schnell einem dieser Meme zuordnen. Da die Person zu diesem Thema offenbar nicht das passende Umgangs-Schema entwickelt hat, sondern vielmehr ein unpassendes einsetzt, um die leidige Situation zu verbessern [was leider aber allzu oft in eine Art Verschlimmbesserung führt], kann sie nun im Rahmen einer Integralen Logotherapie darin begleitet werden, diejenigen Werte zu entwickeln, derer es bedarf, um mit dem Thema funktional stimmig umgehen zu können.

Der Gewinn aus einer derartigen Integralen Logotherapie besteht für den belasteten Menschen darin

  • konkrete Empfehlungen zur Werteentwicklung zu erhalten, die in der Lage sind, eine Verminderung der Belastung durch das akute existenzielle Lebensthema zu erhalten
  • sensibel zu werden für den psychischen Mechanismus der ‚Hyperreflexion’, die die Person immer stärker hineinführt in Selbstzweifel, Grübeleien und Schuldzuschreibungen
  • zu lernen, nicht gegen sich selbst zu arbeiten und den eigenen guten Absichten nicht zuwider zu handeln
  • den gesunden wie den ungesunden Anteilen der Persönlichkeitsakzentuierung gleichermaßen Aufmerksamkeit zu schenken und
  • – regelmäßig von uns beobachtbar – zum Ende des Beratungsprozesses ein meist lange verschollenes Phänomen wiederzuentdecken: Das Staunen über sich selbst und den gefundenen Entwicklungsweg.

Viel Glück im Neuen Jahr

‚Ich kann mich nicht mehr so recht freuen‘, ‚Ich fühle mich unglücklich‘, ‚Das alte Jahr hat mich so richtig runtergezogen und ich dachte, nach Corona könne es nur besser werden‘ …

Das Empfinden, sich nicht als glücklich zu erleben, gehört zum Standardproblem in einer Praxis für Psychotherapie. In unzähligen Facetten berichten Menschen von diesem Unglücklichsein. Und davon, wie sie bislang versucht haben, sich ihre Glücksgefühle zurückzuholen. Und davon, dass diese Methoden zwar lecker, erotisch, schnell, euphorisierend usw. waren, nicht jedoch von Dauer. Und auch davon, dass mehr vom Selben ebenfalls nicht das ersehnte Gefühl gebracht habe.  Immerhin, das Gehirn nimmt was kommt und schüttet je nach Veranlagung des Menschen bereitwillig Adrenalin, Oxytocin, Phenylethylamin, Dopamin und andere Botenstoffe aus. Kurzfristig hilft das und tut gut.

Was das Gehirn nicht weiß: Dass es etwas nicht produzieren kann, was die Ursache für das Empfinden des Unglücklichseins ist. Und diese ‚Ur-Sache‘ ist ‚Sinn‘. Sinn ist eine Ur-Sache in Form eines Gegenstandes, auf den sich der Mensch beziehen kann und der ihm die Verwirklichung seiner eigenen Werte ermöglicht. Ein ‚Gegenstand‘ in Form eines Menschen, einer Aufgabe, einer Verantwortung. Fehlt ein solcher Gegenstand, kommt der Mensch in einen unglücklichen Zustand. Dann ist etwas mit ihm ‚los‘ und er empfindet sich in seiner Welt als hilflos, nutzlos, wertlos, sinnlos.

Der Mensch will nicht glücklich sein. Er will einen Grund haben, um glücklich zu sein.
Dieser Satz von Viktor Frankl macht deutlich: Glück ist eine Folge: es folgt dem Gefühl, Sinn im Leben gefunden zu haben. Wem dieses Gefühl abhanden gekommen ist, dem helfen weder Champagner, Sex oder Nougatschokolade. Auch kein Geld.

Wir wissen: Was hilft, ist die Klärung der eigenen Werte. Wer sie kennt und nicht nur glaubt, sie zu kennen, der hat sein Fundament für Resilienz und Sinnfindung gelegt.

In diesem Sinne wünscht Ihnen das Team der KrisenPraxis eine Werteklarheit, mit der Sie gut in dieses und alle Jahre kommen, die noch vor Ihnen liegen werden.

2023 – neu: 15. Integraleres Denken

Im letzten Beitrag habe ich zur Arbeit an individuellen Sinnleere-Empfindungen die Perspektive eröffnet, dass ein von einer solchen Empfindung betroffener Mensch die jenseits seiner aktuellen Weltausschnittsgrenzen liegenden Sinnimpulse wahrnehmen könnte, würde er sein bestehendes Wertesystem öffnen und damit bereit werden für die Gelegenheiten, die sich im erweiterten Möglichkeitsraum des Lebens zeigen. Was sich dieser Weltöffnung häufig in den Weg stellt, sind Verlust-Ängste aber auch das bislang für das Leben ausreichend gewesene konzeptionelle, konditionierte Denken des Intellekts. Dieses Denken, das wir alle in unserem Kulturkreis so facettenreich anerzogen, antrainiert bekommen und ausgeformt haben, ist dann, wenn sich Sinnleere breitmacht, das gern zitierte ‚dicke Brett, das es zu bohren gilt‘. Es ist deshalb so dick, weil dieses Denken mit Zielen, Zwecken, Zeiten, Absichten, Kompetenzen und Aktionen verbunden ist, die allesamt ihre Beiträge dafür leisteten, dass der Mensch seinem Leben eine Form hat geben können. Solange diese Form mit Inhalten verbunden ist, auf die sich der Mensch mit Motivation ausrichten kann, sind Zustände wie Zufriedenheit, Genugtuung oder Wohlbehagen wahrscheinlich die Folge. Kommt das Denken des Intellekts jedoch an seine Grenzen und findet es immer weniger Inhalt vor, kommt der Mensch mit noch mehr Intellekt, mit noch mehr Gehirn-Geist, Verstand und Ratio auch nicht weiter. Es braucht also etwas anderes.

Albert Einstein meinte einmal: „Die Evolution ist eine Intelligenz von einer solchen Erhabenheit, dass verglichen damit das ganze systematische Denken und Handeln des Menschen ein höchst unbedeutender Abglanz ist.“ Und Evolution im Kontext der hier besprochenen Theorie von Wilber meint ‚integraleres Denken‘. Ein Denken, das sich ‚locker macht‘ von festen Formen, Dogmen, Glaubenssätzen. Schauen wir dazu auf die Werte-Ebenen, so findet sich dieses Denken ab dem Gelb-Meme. Bis dahin denkt der Mensch im Rahmen seiner psychischen Verfassung. Ab Gelb hingegen erwächst eine besondere, neue Freiheit. Die Freiheit, fest davon überzeugt sein zu müssen, irgendwie zu wissen, wie die Dinge sind oder wie sie sein sollten. Und – im Sinne Frankls – auch in der Verantwortung dafür zu stehen, diese einst psychisch fest verankerten Überzeugungen nun im Gelb-Meme zu lockern.

Bei Sätzen wie diesen muss man auf den nächsten Kaperungsversuch der Psyche nicht lange warten, schließlich sieht sie es als ihre Aufgabe an, den Menschen zu unterstützen, ‚die Form zu wahren‘. Und – wie angemerkt – solange die Form [und sei es auch eine lebensungünstige] passt, passt die Psyche den Menschen immer wieder und weiter an diese Form an. Never touch a running system, oder wie die Lateiner wussten: Quidquid recipitur, ad modum recipientis recipitur [Was auch immer empfangen wird, wird gemäß der Weise des Empfangenden erfasst].

Empfindet eine Person nun in ihrem Leben eine Sinnleere, stellt das Bewahren der bisherigen Form [hier also die Umgangs-Form in existenziellen Belastungen] kaum eine Verbesserung der Situation in Aussicht. Es gilt daher, einen Transzendenzprozess auf eine höhere Bewusstheit einzuleiten. Auf den Werte-Ebenen bis Grün findet diese Transzendenz im Modus des konzeptionellen, konditionierten Denkens statt, ab dem Übergang von Grün zu Gelb transzendiert die Person in eine Bewusstheit, in der sie sich verzerrungsbefreiter mit ihrem Leben verbunden fühlt und sich dieses Lebens als gleichwertig mit allem Leben gewahr wird. Ein starkes Signal dafür, dass man in dieser Bewusstheit lebt, ist das Erstaunen darüber, dass man sich immer zunehmender in Konfliktfreiheit mit sich, anderen und allem fühlt. Geht man den Gründen für das Erstaunen nach, so entdeckt man an sich das Phänomen, anders als früher multidimensionaler zu denken, generativer zu sprechen, Paradoxes und Unsicheres nicht abzuwehren, vielmehr es als Ressource zur Entwicklung eines immer stärker werdenden Unterscheidungsvermögens anzunehmen. Ab Gelb empfindet man einiges im Verhalten bis Grün als langweilig. Beige-Hilferufe, Purpurnes-Geplauder, Rote-Befehle-und-Anweisungen, Blaue-Erlasse-und-Debatten, Orange-Erklärungen-und-Diskussionen, Grüne-Aushandlungen-und-Dialoge – ab Gelb hat man diese Wege der Kommunikation eingeschlossen und transzendiert die Gesprächsführung von einer reinen Ich-Du-Wir-Form hin zu einer Gesellschaftsperspektive.

Machen wir es konkret: Angenommen, ein Mensch empfindet Sinnleere in seiner aktuellen beruflichen Situation. Seine beruflichen Erfolge bleiben seit einiger Zeit aus, das Feedback hinsichtlich seiner Karrieremöglichkeiten bleibt hinter den eigenen Erwartungen zurück und die Aussicht auf Stillstand ist gegeben, die Verteilung von Ressourcen erlaubt keine anspruchsvolleren Projekte, die bisherigen Aufgaben werden durch Einsatz von Technologien ausgedünnt. Man macht zunehmend einen Job ohne wirkliche Erfüllung. Die Werte des Orange-Meme sind immer weniger verwirklichungsfähig. Allfällige Versuche, die Form beizubehalten, aber mit neuen Orange-Inhalten zu befüllen, scheitern [z.B. Bewerbungen in vergleichbare Funktionen in andere Unternehmen gelingen nicht, der Sprung in die Selbstständigkeit unter Beibehalt bisheriger Inhalte werden vom Markt nicht goutiert …]. Was also tun? ‚Dienst nach Vorschrift‘ wäre eine mögliche Form des blauen Meme, die Suche nach einer Vorstandsrolle im Fußballverein eine im roten Meme. Der Selbstzweifel in Form einer Depressionserkrankung kann als Ausdruck des beigen Meme angesehen werden. Solche Formgebungen sind deshalb leicht umsetzbar, da das orange-Meme alle vorherigen Meme einschließt. Neu wäre somit die Transzendenz ins Grün-Meme, der Suche nach Sinn in einem gemeinwohlorientierten, empathiezentrierten und durchaus auch das Orange-Meme einschließenden Umfeld. Wäre die Person dahingehend weltoffen, könnte sie grüne Sinn-Impulse wahrnehmen, womöglich über Kommunikationskanäle [Beobachtungen, Gespräche, Literatur usw.], die bislang nicht zu den präferierten gehörten, da nicht anschlussfähig für die als notwendig angesehenen Verhaltens- und Handlungsweisen im Orange-Meme.

Ein zweites Beispiel: Angenommen, eine Person empfindet Sinnleere in ihrer aktuellen privaten Situation. Nach dem plötzlichen Tod des Lebenspartners, mit dem in den vergangenen Jahren verschiedene Gemeinschaftsprojekte initiiert wurden, die Freude an der Verbesserung vieler individueller Lebenslagen ein kontinuierlicher Wegbegleiter der beiden Partner war, eigene schwierige, insbesondere gesundheitliche und finanzielle Störungen durch Aufrechterhaltung einer grundsätzlichen Zukunftszuversicht und Fröhlichkeit beseitigt oder relativiert werden konnten, steht nun eine neue Phase der Lebensführung zur Gestaltung an. Die Person wird von einem lange nicht mehr erlebten Empfinden von Aussichtslosigkeit erfasst, die Psyche macht sich bemerkbar durch Angstgefühle und Endzeitgedanken. Nach ein paar Wochen stellt in einem Gespräch mit einem Bekannten dieser die Frage: „Was wäre gewesen, wärst Du vor Deinem Partner gestorben?“ Die Antwort kommt schnell: „Das wäre für ihn ganz schlecht gewesen, das hätte er kaum ertragen.“ Und der Bekannte sagt darauf: „Dann ist das ja Deinem Partner durch Dich erspart geblieben, auch wenn es nun für Dich bedeutet, ihn zu betrauern und Deinen Weg weiterzugehen.“ Mit diesem kurzen Gespräch konnte die Person eine neue Einstellung zu den weiterhin gegebenen Möglichkeiten entwickeln, sie kam wieder in ihre Kraft und nahm kurze Zeit später verwundert zur Kenntnis, dass sie – trotz ihres Verlustes – das, worum es an sich immer ging, fortsetzen konnte und wollte. Die Illusion, die Aufgaben müssten stets gemeinsam an sie und ihren Partner gebunden sein, wurde aufgegeben. Die Liebe zu den Aufgaben blieb erhalten, ein Gefühl von gelassener Freiheit wurde berichtet.

Bei diesem Übergang vom Grün-Meme in eine gelbe Bewusstheit des Gelassen-Seins half der Person letztlich nur ein einziges Gespräch. Man könnte dieses Gespräch als Sinn-Impuls begreifen, ein Impuls, der dazu beitrug, dass der Kaperungsversuch der Psyche in Richtung Angst und Aussichtslosigkeit zugunsten eines Erhalts der Weltoffenheit abgewendet wurde.

2023 – neu: 14. Die vierte Hauptstraße zum Sinn

Wie hatte Frankl noch einmal die Sinnquellen beschrieben, die jedem Menschen zur Verwirklichung von Werten bereit stehen? Eine erste Quelle, in der Menschen Sinn finden können, ist die der Aufgaben, die nicht erledigt und gelöst würden, wäre der Mensch nicht ein homo faber, der arbeitende Mensch, der unternimmt und schöpferisch tätig wird.

Als zweite Quelle steht das Erleben bereit. Der homo amans – der liebende Mensch – empfängt und genießt mit Freude in Welt der Natur, der Kultur, des Miteinanders. ‚Erst die Arbeit, dann das Vergnügen‘, mit dieser Formel wurden in meiner Kindheit diese beiden für Frankl gleichwertigen Quellen in eine Hierarchie gebracht. Heute macht sich in meiner Anschauung ein sonderbares Streben nach Balance zwischen Aufgabenerfüllung und Selbsterfüllung auf angestrengte Weise breit. Zuweilen scheint es mir, als wäre eine gelungene Umkehrung der alten Formel eine Art Verhandlungserfolg des Einzelnen über seine Welt. Aber das ist meine Wahrnehmung und sie steht hier nicht weiter in Rede. Eher soll auf die dritte Quelle hingewiesen werden, die Frankl für diejenigen Situationen im Leben benennt, in denen der Zugang zu den beiden anderen erschwert oder sogar verunmöglicht wird. In diesen Situationen ist der homo patiens gefragt, der Mensch, der angesichts eines Leids, einer zu verantwortenden Schuld oder im Wissen um den nahenden Tod, zu einer existenziellen Stellungnahme aufgefordert ist.

Auf diesen drei Hauptstraßen zum Sinn kann sich nach Frankl der Mensch bewegen und in dieser Bewegung verwirklicht der Mensch bestehende individuelle Werte, seien es schöpferische Werte [wie zum Beispiel Leistung, Arbeit, Aufbau, Beitrag, Neuerung, Tatkraft …], Erlebniswerte [wie zum Beispiel Anmut, Zünftigkeit, Geschicklichkeit, Schönheit, Flair …] oder Einstellungswerte [wie zum Beispiel Tapferkeit, Faulheit, Versöhnlichkeit, Askese, Resolutheit ..].

Und wie das Leben so spielt, beginnt jeder Tag mit einer neuen Reise über diese Straßen. So kann ein Mensch:

  • beim Zähneputzen [Handlung, aufbauend auf schöpferischen Werten]
  • ein paar Lieder im Radio hören [Handlung, aufbauend auf Erlebniswerten],
  • sich dann wettertaugliche Kleidung anziehen [Handlung, aufbauend auf schöpferische Werte],
  • über den Lieblingsweg mitten im Grünen zur Arbeit radeln [Handlung, aufbauend auf Erlebniswerten und schöpferischen Werten],
  • dann dabei unterbrochen werden, weil man eine Unfallstelle sichert und, weil man das tut, den ersten Termin im Büro verpassen wird [Handlung, aufbauend auf Einstellungswerten und schöpferische Werten],
  • dann verspätet ankommen und die Überraschung annehmen, von Kollegen mit einem Geburtstagskuchen begrüßt werden [Handlung, aufbauend auf Erlebniswerten] usw. usw.

Andererseits kann die Person auch reflektieren, entlang welcher Werte-Meme sie ihren Tag gestaltet hat:

  • Beim Zähneputzen ein paar Lieder im Radio zu hören [kann ein Hinweis auf blaues Meme sein: Strukturierter Tagesbeginn],
  • sich dann wettertaugliche Kleidung anzuziehen [kann ein Hinweis auf orange sein, adäquate Leistungserbringung für die Bewältigung möglicher Wetterprobleme],
  • über den Lieblingsweg mitten im Grünen zur Arbeit zu radeln [kann ein erneuter Hinweis auf blau sein, Nutzung eines Routineprozesses, vielleicht auch mit grünem Anteil aufgrund der Geringhaltung von umweltbeeinträchtigende Handlungen],
  • dann dabei unterbrochen zu werden, weil man eine Unfallstelle sichert und weil man das tut, den ersten Termin im Büro verpassen wird [kann ein Hinweis auf blau sein, eine Entscheidung aufgrund intrinsischer moralischer Verpflichtung, vielleicht auch mit rotem Anteil aufgrund der Selbstbemächtigung, diese Entscheidung willensstark auch gegen mögliche Konflikte zu treffen],
  • dann verspätet anzukommen und von Kollegen mit einem Geburtstagskuchen begrüßt zu werden [vielleicht ein Hinweis auf türkis, wenn der Moment angenommen wird so wie er ist] usw. usw.

Das, was das Leben einem Menschen aufträgt, „wechselt nicht nur von Mensch zu Mensch – entsprechend der Einzigartigkeit jeder Person – sondern auch von Stunde zu Stunde, gemäß der Einmaligkeit jeder Situation“ sagt Viktor Frankl und – wir können ergänzen – hält jederzeit für einen Menschen einen Sinn bereit, den er mit seinem Sinn-Organ [dem Gewissen], und entlang seiner entwickelten Werte-Meme finden und verwirklichen kann.

Diese Ergänzung erscheint mir aus einem persönlichen Ärgernis heraus wichtig zu sein. In zahlreichen Büchern und Online-Vorstellungen der Integralen Theorie von Wilber mit ihren Verweisen auf die Werte-Meme nach Clare W. Graves, wird oftmals das türkise Meme als dasjenige ausgezeichnet,

  • in dem sich ein Mensch mit dem Thema Sinn auseinandersetzt
  • in dem Menschenführung oder Organisationsentwicklung sinnorientiert vollzogen wird
  • in dem der Sinn quasi zu Hause ist

Diese Zuschreibung halte ich für Unfug, suggeriert sie doch eine Art Exklusivrecht auf Sinn oder eine Exklusivhaltung mit Sinn, wenn ein Mensch die Entwicklung auf diese türkise Ebene vollzogen hat. Nein, Sinn kann der Person nicht zugeschrieben werden, denn Sinn ist in der Welt und wird von einer Person mit einer aktuell beigen Bewusstheit aufgrund eines Themas, das dieser Bewusstheit bedarf, anders kontexualisiert als von einer Person mit einer purpurnen, roten oder anderen. Steht zum Beispiel eine Person – wie jüngst bei den extremen Unwettern in Südosteuropa – in der grauenhaften Lage, sich der Wassermassen nicht mehr erwehren zu können und steht sie förmlich vor dem materiellen Aus, so bleibt der Sinn in Form eines fundamentalen Sinns des Lebens erhalten und wird als THEMA mit dem Überlebens-Meme Beige entsprechend adressiert. Hat eine andere Person ihren Wohnsitz an einem Ort, wo sich die Wassermassen nicht derart brachial ihren Weg gebahnt haben, dann mag es sein, dass diese Person vielleicht mit ihrem blauen Ordnungsmeme zuerst die eingetretenen persönlichen Schäden dokumentiert, um die eigene Familie vor finanziell negativen Auswirkungen zu schützen, um sich nach getaner Befassung mit diesem Thema dann einem neuen zu stellen, vielleicht dem Thema ‚Unterstützung des technischen Hilfswerks beim Wegräumen des Schutts in schwererer betroffenen Gebieten“. Hier könnte die Person den Sinn also in einem Impuls entdecken, der sie aufruft, die Werte des grünen Meme mit seinem Aspekt der sozialen Verantwortung zur Verwirklichung zu bringen.

Wenn ich also sehr dazu rate, damit aufzuhören, eine Sinnzuschreibung einzig dem türkis Meme vorzubehalten, so stelle ich dafür einen anderen Begriff in den Raum, der mir für dieses Meme zur besseren Differenzierung aller bisherigen geeigneter zu sein scheint – den Begriff der Wertfreiheit. In Türkis ist Alles mit Allem verbunden, das Universum eine Einheit fein balancierter ineinander greifender Kräfte. Diese Kräfte wirken, ohne dass ihrer Wirkkraft eine Wertung zugrunde liegt noch einer solchen es bedarf.

Wertfreiheit stellt in meiner Anschauung eine Art Implosion der Weltausschnittsgrenzen dar. Ein Mensch hat seine Transzendenzfähigkeit derart ausgebildet, so dass er über die Offenheit zur Klärung und Weiterentwicklung des eigenen Wertesystems – die ich dem gelben Meme zuschreibe – zur Offenheit zur ‚Vernachbarschaftlichung‘ alles Anderen mit dessen Werten gelangt. Mit dieser Offenheit zur Wertfreiheit, eines Zusammenfallens aller eigener Werte mit allen anderen Werten und über dies hinaus mit allen weiteren Werten, geht der Mensch auf der vierten Hauptstraße zum Sinn, der Straße der Vollendung. Wer auf dieser Straße geht, den will ich homo complens, den vollendenden Menschen, nennen.

2023 – neu: 13. Beitrag des Menschen zur Selbstüberwindung seiner Weltausschnittsgrenzen

Im letzten Beitrag wurden die drei Hauptstraßen zum Sinn aus der Sinntheorie Frankls vorgestellt. Da Sinn sich ‚in der Welt für jeden Menschen als jederzeit Gegebenes‘ darstellt, sich jedoch Welt – konstruktivistisch gedacht – für jeden Menschen stets als ein von ihm definierter Weltausschnitt mit ‚Weltausschnittsgrenzen‘ zeigt, mag die Hypothese angemessen sein, dass ein Mensch, der seine Welt mehr oder minder als sinnleer empfindet, darin zu unterstützen ist, Sinnimpulse gerade nicht in seinem Weltausschnitt zu suchen, sondern mithilfe seiner per se gegebenen Transzendenzfähigkeit eine geistige Grenzüberschreitung vorzunehmen. Für diesen Blick hinter den eigenen Horizont bietet sich entlang Ken Wilbers Integraler Theorie die Idee an, dass eine Person für das THEMA ‚Sinnfindung‘ ein neues SCHEMA entwickelt und letztlich damit einen Schritt auf derjenigen Entwicklungslinie weitergeht, die von zentraler Bedeutung dafür ist, einen neuen ‚Umgang mit der eigenen Welt‘ einzuleiten. Wenn nämlich, wie Frankl postuliert, Sinnfindung durch Werteverwirklichung geschieht, dann darf gefolgert werden, dass die Person auf ihrer Entwicklungslinie ‚Werte‘ aufgerufen ist, eine Erweiterung ihrer ‚Weltausschnittsgrenzen‘ vorzunehmen. Diese Erweiterung meint explizit nicht Abwertung der bisherigen Grenzen mit ihren Werten, sondern im Gegenteil und im Sinne Wilbers ‚Einschließen des Bisherigen und Transzendieren auf die Erweiterung‘. Ein guter Grund für diese Erweiterung liegt ohnehin vor, da die Person ja dem Empfinden von Sinnleere entrücken will und womöglich nur nicht weiß, an welcher Grenze ihrer Welt es ein ‚wohin es sie ziehen könnte‘ gibt.

Wenn wir dies konkretisieren wollen, dann sei zuerst daran erinnert, dass sich aus der Kombination von THEMA + SCHEMA ein Handlungs- oder Verhaltens-MEME ergibt. Wie in einem früheren Beitrag erwähnt bringen MEME die Bewusstheit zum Ausdruck, mit der ein Mensch im Hier und Jetzt sich verhält oder handelt. In den meisten Lebenssituationen passt der Umgang (das Schema) zum Thema. Passt das Schema nicht, dann auch nicht das Meme. Der Mensch verfehlt sich, verrennt sich, demotiviert sich. Im extremen Fall fällt die Person in Selbstzweifel, dem zentralen Indiz für eine Lebenskrise. An seinem Selbst zu zweifeln meint im Kern, an den eigenen Grundüberzeugungen und Werten zu zweifeln. Man bewertet sich als nicht mehr in der Lage, Herr im eigenen Haus zu sein und einen passenden Weg finden zu können, mit dem man sein Leben als sinnvoll fühlt.

Es gilt spätestens jetzt (besser jedoch bereits im Rahmen einer Individuellen Krisenprävention), sich im ersten Schritt der Werte bewusst zu werden, mit denen man sich innerhalb der bisherigen ‚Weltausschnittsgrenzen‘ verhält und handelt. Und im zweiten Schritt dann das Meme mit seinen Werten zu erarbeiten, das außerhalb dieser Grenzen liegt und womöglich die Sinnimpulse bereithält, die bislang noch keinen Zugang in die eigene Welt gefunden haben.

Um diese Arbeitsschritte etwas zu erleichtern, wurde in einem interdisziplinären Team für jedes Meme [siehe dazu die Ausführungen in den früheren Beiträgen] ein Set an Werten identifiziert und im Tool „Life2Me® – Einstellungswerte“ zusammengeführt. Dieses Tool wird in meiner Praxis insbesondere im Kontext existenzieller Abschiede genutzt und wurde erstmals im Rahmen der Buchvorstellung ‚Coaching des Todes‘ im Jahr 2020 eingeführt.

Hier die jeweils 13 Wertebegriffe für die Meme-Ebenen nach Clare W. Graves von Beige bis Türkis:

Beige [das Meme des Überlebens]: Zweckmäßigkeit, Präsenz, Robustheit, Stärke, Tüchtigkeit, Verzicht, Wachsamkeit, Wendigkeit, Zähigkeit, Maßhaltung, Antrieb, Hoffnung, Abhärtung

Purpur [das Meme der Geborgenheit]: Andenken, Anschluss, Ehrfurcht, Gemeinschaft, Glaube, Herkunft, Liebe, Nähe, Religiosität, Rückhalt, Sozialität, Verankerung, Zugehörigkeit

Rot [das Meme des Einflusses auf Menschen und Dinge]: Direktheit, Dominanz, Exzentrik, Härte, Kampfgeist, Macht, Meisterhaftigkeit, Mut, Radikalität, Selbstsicherheit, Strenge, Unkompliziertheit, Wille

Blau [das Meme der Strukturbildung]: Zuverlässigkeit, Tradition, Sicherheit, Pflicht, Ordnung, Korrektheit, Konventionalität, Höflichkeit, Gerechtigkeit, Disziplin, Treue, Sittsamkeit, Kontrolle

Orange [das Meme der Zielmotivation]: Pionier, Originalität, Kreativität, Individualität, Dynamik, Attraktivität, Neuerung, Leistung, Expertentum, Ehrgeiz, Anspruch, Ansporn, Veränderung

Grün [das Meme der Gemeinwohlausrichtung]: Aufklärung, Balance, Behutsamkeit, Beteiligung, Gleichberechtigung, Kameradschaft, Menschlichkeit, Natur- und Umweltverbundenheit, Resonanz, Respekt, Substanz, Toleranz, Zukunft

Gelb [das Meme des vernetzteren Denkens]: Beweglichkeit, Freigeist, Idealismus, Klugheit, Liberalität, Reform, Spiritualität, Tiefsinnigkeit, Trennung, Unbefangenheit, Vermittlung, Wagemut, Weitblick

Türkis [das Meme des integraleren Denkens] : Anmut, Demut, Geduld, Holismus, Stille, Tragfähigkeit, Transparenz, Transzendenz, Unvoreingenommenheit, Weisheit, Wirkung, Würde, Zeitlosigkeit

Fraglos kann die Zusammenstellung dieser Wertegruppen kontrovers diskutiert werden. Bei der schier unendlichen Vielfalt individueller Begriffsverständnisse würde es verwundern, käme es an dieser Stelle nicht zum Wunsch der Ergänzung weiterer Werte zu einzelnen Gruppen, Verschiebungen von Werten in andere Gruppen oder der Streichung von Begriffen. Wir haben in unserer Diskussion ‚im kleinen Kreis und am grünen Tisch‘ unser ‚kollektives Gefühl‘ herangezogen und dabei berücksichtigt, dass die Meme beige, rot, orange und gelb im Konzept von Graves als jeweils ichorientiert, die Meme purpur. blau, grün und türkis als jeweils gruppenorientiert definiert sind. Die Frage, die wir uns stellten, war daher: ‚Fühlt es sich für uns stimmig an, dass sich zum Beispiel die Werte des ichorientierten roten Memes als Grundlage für die Entwicklung des nächsthöheren ichorientierten Memes – hier orange – anbieten?“ Da nach Wilber eine Meme-Ebene die vorangegangenen EINSCHLIESST und ihrerseits die Grundlage zur TRANSZENDENZ auf höhere Ebenen ist, hielten wir diese Vorgehensweise für angemessen. Und dies wohlwissend entlang unserer Annahme, dass gerade aus dem starken orange-Meme unserer Leistungsgesellschaft heraus sofort die Kritik zu erwarten ist, dass ein solches Vorgehen weithin als wissenschaftlich unzureichend verworfen werden würde. Ja, und so konstatieren wir augenzwinkernd mit Bert Brecht: ‚Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen‘ (aus: Der gute Mensch von Sezuan), nicht ohne die ‚beige‘-Hoffnung, dass unser Impuls ‚überlebt‘ und seine Reise auf der dynamischen Spirale der Meme bis hin zum kaleidoskopischen Blick auf das Ganze eine Chance hat.

2023 – neu: 12. Gedanken zur Idee einer Integralen Sinntheorie als Erweiterung des Gedankenguts von Viktor Frankl

Viktor Frankl ging es stets darum, Freuds Psychoanalyse und Adlers Individualpsychologie zu ergänzen, indem er den diesen Richtungen immanenten Psychologismus und Reduktionismus transzendierte in ein Menschenbild, das den Menschen als Wesen auszeichnet, das weltoffen nach Sinn in seinem Leben strebt. Dies vor Augen, drängen sich mir Fragen auf, für die ich in den kommenden Monaten nach Antwortmöglichkeiten suchen werde:

  • Lässt sich neben den von Frankl beschriebenen drei Hauptstraßen zum Sinn womöglich heute eine vierte finden? Vielleicht zeigt sich heute, gut 100 Jahre nach Begründung der dritten Wiener Schule für Psychotherapie durch Frankl eine Straße, die sich dank vergrößerter individueller Möglichkeiten zur Weltoffenheit erst dann zeigt, wenn ein Mensch eine integralere Gegenwarts-Bewusstheit entwickelt hat [im Graves Modell die Meme ab Gelb]?
  • Angenommen, eine solche Straße ließe sich sprachlich fassen, wie würde ein Mensch es dann womöglich ausdrücken, wenn er sagt, dass er mit sich und der Welt im Einklang steht, wenn er sich auf dieser Straße auf die Reise hin zum Sinn macht?
  • Auch würde mich interessieren, ob es in einer früheren Epoche der Menschheitsentwicklung bereits Anzeichen für eine solche Gegenwarts-Bewusstheit und ein entsprechendes integraleres Werte-Meme gegeben hat? Anzeichen, die aber nicht stark genug waren, um sich in einer breiteren Gesellschaft als Ausgangspunkt ihrer weiteren Entwicklung anzubieten.
  • Und gegenwartspraktisch: Womit könnte ein integral arbeitender Logotherapeut seine Klienten im Rahmen einer Integralen Logotherapie über den Rahmen der ‚klassischen‘ Logotherapie hinaus unterstützen? Und überhaupt: woran kann ein Logotherapeut wahrnehmen, dass er eine integrale Bewusstheit für die Ausübung seiner Rolle entwickelt hat?

Drei Hauptstraßen zum Sinn?

In der Sinnlehre von Viktor Frankl wird betont, dass der Mensch sich nur in dem Maße zu verwirklichen vermag, indem er einen Sinn draußen in der Welt, nicht aber in sich selbst erfüllt. Diesen Prozess nennt Frankl die Selbsttranszendenz der menschlichen Existenz. Eine Selbstverwirklichung hingegen, die auf etwas hingeordnet ist, das nicht über den Menschen selbst hinausgeht, sondern letztlich nur wieder auf ihn selbst verweist, ist nach Frankl ’sinn-los‘.

Wirklich Mensch ist der Mensch nur dort, wo er in der Hingabe an eine Aufgabe aufgeht oder in der Liebe zu einem Gott*, zu einer Sache oder zu einer anderen Person sich selbst übersieht und vergisst. Diese menschliche Fähigkeit zur Selbstvergessenheit, sich zurückzustellen und sich nicht alles von sich selbst gefallen zu lassen, ist gleichermaßen Ausdruck seiner Fähigkeit zur Selbsttranszendenz. Und selbst in den tragischen Situationen menschlicher Existenz, bei Leid, Schuld oder Tod, kann er diese Fähigkeit einsetzen durch eine Modulation seiner Einstellung, die einer womöglich psychischen Hilf- und Hoffnungslosigkeit entgegenwirkt. [* In Frankls sinnzentrierter Psychotherapie wird Religion neutral als Gegenstand, nicht aber als Standort angesehen. Aus dieser Perspektive wird Gott zu einem Sprachpartner, wobei der Mensch nicht immer versteht, mit wem er sich tatsächlich unterhält. Der Mensch bezieht sich auf das Absolute, das eigentlich unbeziehbar ist und erlebt ein Geborgenheitsgefühl, das ihm insbesondere in Grenzsituationen hilft und das dadurch therapeutische Relevanz besitzt. vgl. Frankl V.E: [1972]: Der Wille zum Sinn, Hans Huber Verlag Bern, 73-74]

Hat nun der Mensch Sinn in seinem Leben entdeckt und steht ihm seine Psyche nicht im Weg, eben diesen Sinn auch zu verwirklichen, so macht sich der Mensch auf den Weg über eine der Hauptstraßen hin zum Sinn.

Auf der ersten Hauptstraße hin zum Sinn geht der schöpferische Mensch. Er hat in der Welt eine Aufgabe entdeckt, die nicht gelöst würde, wenn nicht von ihm. Dafür setzt er seine Kraft, seine Fantasie, seine Fähigkeiten, Talente und Ideen ein. Er wird schöpferisch tätig und verwirklicht schöpferische Werte.

Auf der zweiten Hauptstraße hin zum Sinn geht der erlebende Mensch. Er hat in der Welt einen Schatz entdeckt, den zu erleben, ihn mit Freude erfüllt. Schätze finden sich in der Kultur, in der Natur, in der Anschauung anderer Menschen, in der liebenden Berührung, im Gebet, letztlich in der bewussten Wahrnehmung einer den Menschen kräftigenden Quelle. Der Mensch erlebt und verwirklicht Erlebniswerte.

Auf der dritten Hauptstraße hin zum Sinn geht der leidende Mensch. Er hat in der Welt einen auf ihn weisenden Gegenstand entdeckt, den er zwar nie entdecken wollte, dem er sich aber unabänderlich zu stellen hat. Diese Gegenstände finden sich im Leid, im Gewahrwerden eigener Schuld oder im Angesicht des Todes. Der von diesen Gegenständen ausgehende Sinnimpuls führt den Menschen zu einer Stellungnahme. Sie ermöglicht ihm, nicht zu  verzweifeln, sondern seiner Geistbegabung folgend trotzdem ‚Ja‘ zum Leben zu sagen. Der Mensch bezieht Stellung, er bleibt in der Autorschaft seines Lebens und verwirklicht Einstellungswerte.  

Lassen Sie uns kurz zurückschauen: Seinen ersten Vortrag über die Sinnfrage hielt Frankl bereits mit 16 Jahren. Und bereits 1929 fand der 24jährige Frankl dann das Grundgerüst seiner ,Sinnlehre‘ mit den drei Wertekategorien, die für ihn die grundsätzlichen Möglichkeiten des Menschen darstellen, Sinn im Leben zu finden: durch eigenes Erschaffen, durch eigenes Erleben und – in Krisen – durch eigene Neueinstellung zum Leiden.

Nach dem Sinn im Leben zu fragen, stellt das eigentliche Humanum dar. Für Frankl ist der Mensch ständig auf der Suche nach Sinn, er hat einen unbedingten Willen zum Sinn. Findet der Mensch einen Sinn, dann – und nur dann – ist er glücklich. Und damit die Sinnfindung gelingt, kann der Mensch auf eine Fähigkeit zurückgreifen, zu der nur er in der Lage ist: Zur Fähigkeit der Selbsttranszendenz. Der Mensch ist mit dieser Fähigkeit mehr als nur ein reagierendes oder ein abreagierendes Wesen. Er ist auch ein sich selbst vergessen könnendes, sich selbst transzendierendes Wesen. Damit meint Frankl, dass menschliches Dasein immer über sich hinausweist, auf etwas, das nicht er selbst ist, sondern auf etwas oder jemanden, den er liebt. Oder auf eine Aufgabe, die er sich nicht selbst gemacht hat, der er sich aber hingibt. Und auch in einer Situation eines unabänderlichen Schicksals geht es für Frankl nicht darum zu fragen, was man vom Leben (noch) zu erwarten hätte. Diese Haltung führt seiner Meinung nach am Sinn des Lebens vorbei. Es geht vielmehr darum, sich umgekehrt vom Leben befragen zu lassen und darauf zu achten, was das Leben von einem selber verlangt. Es gilt, die Frage der Stunde, des Augenblicks, der Situation zu verstehen und darauf eine ganz persönliche Antwort zu geben, denn, so Frankl, „wir sind es, die zu antworten haben auf die Fragen, die uns das Leben stellt.“

Im Kontext der Wilber’schen Theorie können wir die Analogie bilden, dass ein Mensch, der von seinem Leben aufgefordert wird, ein Gespräch zu führen, eine Aufgabe zu erledigen, ein Problem zu lösen, einen Konflikt zu mindern, eine Krise zu meistern usw. dies entlang seiner Gegenwarts-Bewusstheit, also mit einer seiner entwickelten Werte-Ebenen [Meme-Ebene] tun wird. Anders als in den drei von Frankl genannten Wertekategorien stehen nun für jede Werte-Ebene ein Set an Werten zur Verfügung, die ein Mensch in seinem Wertesystem verankert haben kann [welche Werte in meiner Anschauung den Ebenen zugeordnet werden könnten, werde ich in einem der Folgebeiträge besprechen].

Führt nun eine Situation dazu, dass eine gegebene Gegenwartsbewusstheit für deren Bewältigung nicht passend ist, steht der Mensch [bei Wilber ist das der Prozess des Transzendierens] nun vor dem Aufruf, einen Entwicklungsprozess hin zu einer neuen, höheren Werte-Ebene einzuleiten, der bestenfalls dazu führt, dass damit die Situation gestaltet werden kann.

Im Konzept Frankls steht vor dieser Entwicklung jedoch noch die Beantwortung einer anderen Frage im Vordergrund: Vermittelt der spezifische Aufruf des Lebens dem Menschen Sinn oder ist die Gestaltung der Situation lediglich zweckdienlich?

Dazu ein einfaches Beispiel: Angenommen, eine Person ruft Sie an und fragt, ob es möglich sei, ein Produkt, das üblicherweise von Ihnen hochpreisig verkauft wird, für ein gemeinwohlorientiertes Projekt kostenfrei von Ihnen erhalten zu können?

  • Sofern Sie das, was Sie im Gespräch wahrnehmen, BEGEISTERT, so wird Ihre eigene Geistbegabung dazu beitragen, sofort das Wofür zu entdecken. Aber womöglich wird sich im Anschluss Ihre Psyche melden und Ihnen allerlei Fragen stellen, vielleicht im Sinne eines: Bringt Dich das weiter? Was sind die Pro’s und Con’s? Kannst Du der Sache vertrauen? ….
    In diesem Fall wäre die Psyche eine Art Zensor des Sinnimpulses und eine Reflexion der Frage: Warum brauche ich diesen Zensor? wäre lohnend.
  • Oder aber, Sie sind nicht begeistert, aber Ihre Psyche stellt Ihnen dennoch solche Fragen wie oben und Sie beantworten sie sich so, dass Sie das Produkt zur Verfügung stellen. Dann erfüllt die Abgabe einen Zweck, vielleicht in Form eines Reputationsgewinns, eines guten Gefühls, einer Hoffnung auf eine Belohnung zu späterer Zeit. In diesem Fall wäre die Psyche eine Art Erlaubnisgeber für den guten Zweck und eine Reflexion der Frage: Warum brauche ich eine Stimme in mir, die mir das erlaubt? wäre lohnend.
  • Was aber, wenn Sie BEGEISTERT sind und spontan sagen: Ja, gewiss, damit stehe ich im Einklang! In diesem Fall hat die Psyche nicht die Oberhand über das Geschehen übernommen, sondern das Geistige mit seiner Transzendenzfähigkeit und der mit ihr verbundenen Werteverwirklichung. In diesem Fall wäre also nicht ein Erlaubnisgeber in Ihnen aktiv, sondern Ihr Gewissen – die Instanz der in Ihnen innewohnenden absoluten Selbstverständlichkeit, die sogar beißt, wenn Ihre Psyche versucht, sich zwischen Sie und Ihre gewissenhafte Entscheidung zu drängen. In diesem Fall lohnt sich eine Reflexion der Frage: Wann in meinem Leben habe ich meinen wesentlichen Werten folgend gewissenhaft gehandelt?

Behalten wir das Ausgangsszenario bei und kommen wir zurück zu Ken Wilber. Hier wäre nun die Anfrage nach der Überlassung des Produktes für einen gemeinwohlorientierten Zweck das THEMA. Mit diesem Thema können Menschen nun je nach Status quo ihrer Entwicklungslinie und ihrer Werte-Ebene zu einer völlig unterschiedlichen Entscheidung kommen.

Aber einmal angenommen, Sie hätten den Anruf entgegengenommen und wären auf Ihrer moralischen Entwicklungslinie [ein wissenschaftlicher Protagonist für die Erforschung individueller Moral ist Lawrence Kohlberg] auf der Stufe angekommen, auf der Sie sich an universell ethischen Prinzipien orientieren. Weiter sei angenommen, Sie wären auf der emotionalen Entwicklungslinie [hier ist eine wissenschaftliche Adresse Daniel Goleman] im Feld der Empathie. Und noch weiter sei angenommen, Sie würden zustimmen, auf der Entwicklungslinie Ihrer Bedürfnisse nach Abraham Maslow das Feld der Selbstverwirklichung erreicht zu haben.

Ergänzen wir nun die im Wilber’schen Gedankengut integrierte Betrachtung der Werte-Ebenen nach Clare W. Graves und nehmen an, dass Sie sich Handlungen und Verhaltensweisen entlang von Werten, die auf menschliche Bindung und soziale Verantwortung gerichtet sind, selbstverpflichtet fühlen.

In dieser Konstellation einiger Ihrer Persönlichkeitsmerkmale wäre die Hypothese tauglich, dass Sie das THEMA mit solchen SCHEMATA adressieren, die annehmen lassen, dass Sie Ihre Entscheidung im Kontext des Grünen Meme vornehmen. Es wäre zu erwarten, dass Sie wertebasiert bereit wären, dem Anrufer eine positive Antwort zu geben und Ihr Produkt zur Verfügung zu stellen.

Was aber, wenn Sie zwar über dieses Meme verfügen, jedoch nicht vom Anrufer BEGEISTERT werden? Wenn Sie zwar VERSTEHEN, was der Anrufer mit seiner Frage BEZWECKT, in Ihnen jedoch kein GEFÜHL einer möglichen Werteverwirklichung entsteht, das Sie aufruft, der Anfrage positiv zu folgen? Woran könnte dieser Gefühlsmangel liegen?

  • Vielleicht liegt es daran, dass der Anrufer seine Anfrage auf der Basis eines – im Vergleich zu Ihnen – niedrigeren Werte-Meme vollzieht und dies in Ihnen nicht emotional resoniert?
  • Vielleicht liegt es daran, dass die Wortwahl des Anrufers Sie fühlen lässt, dass dieser eher  nutzenorientiert für die eigene Organisation argumentiert als sinnorientiert für die potenziellen Anwender des Produktes?
  • Vielleicht liegt es daran, dass der Anrufer in seinem Anruf vermissen lässt, auf den eigenen Sinnimpuls hinzuweisen, der ihn erreichte als er Kenntnis von der Existenz Ihres Produktes erlangte? …

Zahllose weitere Möglichkeiten könnten gefunden werden, warum der Anfrage des Anrufers keine entsprechende Handlungsbereitschaft folgt. Meine Thesen dazu sind:

  • Sinnimpulse werden oftmals deswegen nicht wahrgenommen, weil zwischen dem, worum es eigentlich geht, Menschen ‚zwischengeschaltet‘ sind, die sich dieses Eigentliche zum THEMA machen und dann mit ihren Werte-MEME in Kommunikation treten mit anderen Menschen [hier im Beispiel mit dem Angerufenen], in der hoffenden Erwartung, dass sich dieser Mensch das Thema zu seinem THEMA macht. Es scheint erforderlich zu sein, dass Anrufer und Angerufener das Thema aus demselben Werte-Meme anschauen, damit Handlungswunsch und Handlungsbereitschaft einander entsprechen. Besteht diese Meme-Passung nicht, dann kann der eigentliche Sinnimpuls nur nicht wahrgenommen werden, weil das SCHEMA des ‚zwischengeschalteten‘ Kommunikationspartners dem Angerufenen den Zugang zum Eigentlichen verunmöglicht.
  • Eine unzureichende Meme-Passung, die dazu führen kann, dass keine Begeisterung für das eigentliche Thema aufkeimt und es darum nicht zu einer Handlung kommt, ermöglicht der Psyche, die Oberhand über das Geschehen zu behalten. Im genannten Szenario wären dies beispielsweise Verärgerungen darüber, dass der Anrufer mit seinem Anliegen dem Angerufenen Zeit geraubt hat. Oder dass es dem Anrufer nicht möglich war, das, worum es im Eigentlichen geht, nicht nur sachlich, sondern auch nachfühlbar zu kommunizieren. Oder dass es dem Anrufer schlicht deshalb nicht möglich war, Begeisterung zu entzünden, da er sich das eigentliche Thema selbst nicht zum Thema gemacht hat, sondern vielleicht für ihn nur im Vordergrund stand, dem Thema ‚Leute anrufen und ihnen von dem Eigentlichen erzählen‘ zu folgen [wir kennen dieses Phänomen, dass ‚Anrufer‘ mit dem Eigentlichen nicht korrespondieren, zum Beispiel aus dem Direktvertrieb; ich persönlich auch aus Kommunikation mit Kirchenleuten].

Was also tun, um den Sinn des Eigentlichen zu finden, wenn es aufgrund unpassender Werte-Meme von Kommunikationspartnern nicht durchdringt? Im Kern gibt es für Situationen wie diese – wie ich finde – nur eine Antwort: Behalten Sie das ‚wofür wäre meine Handlung für das Eigentliche gut‘ im Auge. Alles andere lenkt ab und ermöglicht der Psyche, die Oberhand über das Geschehen zu gewinnen. Konkret im Fallbeispiel bedeutet das: Es ist irrelevant, ob der Anrufer Sie begeistert, Ihnen schmeichelt, Sie umwirbt usw.. Relevant ist, ob Ihre Handlung für das gemeinwohlorientierte Projekt gut ist. Bemerken Sie bei dieser Bewertung, dass Sie sich selbst mitthematisieren, dass Sie also überlegen, ob Ihre Handlung auch für Sie selbst gut ist, dann hat Ihre Psyche bereits ihren ‚Kaperungsversuch‘ unternommen. Sich dessen bewusst zu werden, wann, wie und warum die Psyche bestrebt ist, sich in Ihre Handlungen einzumischen, ist der zentrale Schritt auf dem Weg zur Differenzierung von sinnvollen und zweckdienlichen, womöglich sogar sinn- und/oder zwecklosen Handlungen.

Nun mag man fragen, ob das nicht ein wenig zu viel verlangt sei und an der Lebenswirklichkeit eines Menschen vorbeiginge, wenn die Erwartung wäre, dass dieser Differenzierungsprozess ständig ablaufen müsse.

Da der Mensch stets vor eine Wahl gestellt wird, erfährt er sich als ein im Grunde vom seinem Leben permanent Befragter. Jede Lebenssituation, jeder Tag und jede Stunde stellt ihn vor eine Wahl, verlangt eine Entscheidung von ihm. Der Mensch ist in den Augen Frankls ein vom Leben in Frage Gestellter, der auf die Anfragen des Lebens die passenden Antworten finden muss. Gleichzeitig aber strebt der Mensch als selbständig denkendes und handelndes Wesen danach, für sein Leben selbst einzutreten, es autonom und eigenverantwortlich zu führen. Daraus folgt, dass der Mensch eine persönliche Orientierungshilfe benötigt, die ihm sagt, wo und wann er welche Entscheidungen treffen soll. Diese Orientierung bietet der Sinn, er ist die wertvollste Möglichkeit in jeder Situation. Ohne ihn wird ein Mensch von sich selbst abhängig und damit von seinem Psychophysikum. Gefundener Sinn im Leben macht ebendieses leichter.

Das klingt in den Ohren vieler, denen das Herz schwer ist, die sich damit schwertun, Entscheidungen zu treffen oder die sich nur schwerlich dazu aufraffen können, sich mit ihren Alltäglichkeiten auseinanderzusetzen wie eine Offenbarung. Ja, wenn es doch nur einmal so leicht ginge. Genauer hingeschaut zeigt sich aber immer wieder: Was das Leben schwer macht, ist das Psychische, zuweilen auch der psychische Umgang mit etwas Körperlichem. Das ist seltsam, erzeugt es doch ein Bild einer Dimension, die es förmlich darauf abgesehen hat, einem Menschen die Freude am Sein recht gründlich zu vermiesen. Und in der Tat, wenn ich mich definiere als Wesen, das sich gegenüber den Unwettern der Erbsünde, des freudianischen Spagats zwischen Es und Über-Ich, des adlerianischen Minderwertigkeitsempfindens, des jungianischen Verdrängungsschattens, der projizierten Glaubenssätze, der im Lebensverlauf zahllosen Feedbacks usw. zu schützen hat, dann wird das Leben zu einem wahren Dauerlauf-Kraftakt. Wie viele Kalorien täglich braucht eine Psyche wohl, um diesen Dauerlauf zu schaffen?

Ken Wilber bietet uns in diesem Kontext diese Perspektive an: „Wir sehen nicht, dass der GEIST hier und jetzt voll und ganz gegenwärtig ist, weil unser Gewahrsein durch Vermeidungstendenzen getrübt ist. Wir wollen nicht entscheidungslos die Gegenwart bewahren; wir wollen vielmehr vor ihr davonlaufen, oder ihr nachlaufen, oder wir möchten sie ändern, sie hassen, sie lieben, sie verabscheuen oder irgend etwas unternehmen, um in sie hinein oder aus ihr hinaus zu gelangen. Wir tun alles Mögliche, nur nicht in der reinen Gegenwart des Gegenwärtigen verweilen.“ Und lesen wir dazu Frankl: „Die Aufgabe wechselt nicht nur von Mensch zu Mensch – entsprechend der Einzigartigkeit jeder Person –, sondern auch von Stunde zu Stunde, gemäß der Einmaligkeit jeder Situation“, so wird eine Gemeinsamkeit im Gedankengut deutlich: Jederzeit und jetzt hält das Leben jedem Menschen Sinn bereit. Diesen Sinn können wir nicht machen und wir müssen es auch nicht. Ken Wilber dazu: „Die Wörter selbst sind nicht die Dinge, auf die sie verweisen. (…) Unsere Wörter, und mit ihnen unsere Ideen, Begriffe und Theorien sind nur Karten der tatsächlichen Welt.“

Jeder Versuch, sich Sinn zu machen, stellt daher einen Akt der Psyche dar, dem Gefühl der Sinnleere entgegenzuwirken. Das klingt mühevoll, schwer und anstrengend. Anders die Grundüberzeugung Frankls, dass der Mensch ein Gespür dafür hat, wofür diese Stunde geschaffen ist, was jetzt gerade das Beste zu tun oder zu lassen ist. Diese intuitive Fähigkeit zur Sinnfindung in jeder Situation ist eine dem Menschen innewohnende Fähigkeit – es ist Gewissen. „Das Gewissen lässt sich definieren als die intuitive Fähigkeit, den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren. Mit einem Wort, das Gewissen ist ein Sinn-Organ.“[Frankl]

Die grundlegende Haltung der Weltoffenheit und des Sich-Anfragen-Lassens mündet in einem Prozess, der zum Sinn führt. Im allgemeinen taucht ein Sinngefühl mehr oder weniger bewusst auf, wenn wir uns die Realität einer Situation anschauen. Dieses Sinngefühl empfinden wir als innere Bewegtheit, als Resonanz des eigenen Wertesystems mit dem, wozu das Leben den Menschen jetzt aufruft. Das Gefühl dieser Resonanz kann sich langsam entwickeln wie ein Bild, das aus dem Nebel auftaucht, oder es kann wie ein Blitz mit der ganzen klaren Gewissheit sofort da sein.

Wie auch immer, wenn der geistige Rucksack des Menschen so prall gefüllt ist, um Sinn zu finden und wenn die Fähigkeit zur Bewusstseinsentwicklung auch von Wilber [Stichwort: ‚Einschließen und Transzendieren‘] postuliert wird, dann muss interessieren, wie menschliches Dasein konstituiert ist, so dass Formen existentieller Frustration überhaupt möglich sind? Wenn es doch an sich kein Problem sein dürfte, warum gibt es dann immer mehr Menschen, denen ein tragender Sinn im Leben verloren gegangen ist, die unter Orientierungslosigkeit, Inhaltsleere ihres Lebens oder unter einer Sinnkrise leiden?

Häufig meinen Menschen, darauf mit einer Wenn-Dann-Logik antworten zu können: Weil Arbeitslosigkeit, weil der Tod eines nahestehenden Menschen, weil der Verlust einer Beziehung durch Trennung oder Scheidung, weil eine schwere körperliche oder seelische Krankheit, weil ein chronisches Leiden, weil …, deshalb existenzielle Frustration.

Erinnern wir noch einmal Wilber: Die Wörter selbst sind nicht die Dinge, auf die sie verweisen, sie sind nur Karten der tatsächlichen Welt. Die tatsächliche Welt ist also viel größer, und der Mensch hat weit mehr ‚zuhanden‘ [vgl. dazu auch Martin Heidegger „Zuhandenheit ist die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ‚an sich‘ ist“].

‚An sich‘ sieht sich der Mensch den Gegenständen in der Welt gegenüber, von denen ihn einige zuweilen psychisch frustrieren und ihn vermeintlich sinnblind werden lassen, wenngleich sich darüber hinaus geistig blickend stets neue Sinnmöglichkeiten auftun. Es scheint, als würde heutiges menschliches Dasein diesen geistigen Blick ins Leben erschweren und Menschen zunehmend glauben machen, der eigene Ausschnitt von Welt sei bereits die Welt. Und mir scheint zudem, dass Wilber wie Frankl gleichermaßen den Schlüssel zur Überwindung dieser ‚Weltausschnittsgrenzen‘ in der Trans-zendenzfähigkeit des Menschen sehen. Eine Fähigkeit, die in meiner Anschauung etwas Wesentliches sowohl bedingt als auch mitmeint: Die Offenheit zur Klärung und Weiterentwicklung des eigenen Wertesystems. Und die Offenheit zur ‚Vernachbarschaftlichung‘ alles Anderen mit dessen Werten. 

Ich will diesen Umgang mit sich selbst und der Welt als vierte Hauptstraße zum Sinn verstehen und dem diese Straße gehenden Menschen im übernächsten Beitrag auch eine spezifische Beschreibung geben.